Der verlängerte Arm einer herrschenden Partei

Vor 15 Jahren (1989) wurden die DDR-Freidenker ins Leben gerufen

Am Wochenende 14./15. Januar 1989 überraschten das „Neue Deutschland“ und die anderen SED-Tageszeitungen die Menschen in der DDR mit der Mitteilung, dass sich am Vortage ein Arbeitsausschuss für die Bildung eines Verbandes der Freidenker in der DDR konstituiert habe. Dem Ausschuss gehörten 43 mehr oder weniger bekannte Persönlichkeiten an, fast alle Mitglieder der SED, überwiegend Professoren und bis auf zwei - alles Männer. Offiziell wurde die Initiative mit dem Ziel begründet, „die wissenschaftliche, dialektisch-materialistische Weltanschauung unter der Bevölkerung zu verbreiten und alle zu erreichen, die sich um die Klärung philosophischer, weltanschaulicher und ethischer Fragen von einer nichtreligiösen Position aus bemühen“.1 Die wache Volksmeinung vermutete schon damals, was sich nach der „Wende“ bestätigte: Die Gründung der DDR-Freidenker war vom Ministerium für Staatssicherheit angeregt und im SED-Politbüro vorbereitet worden. Die Freidenker sollten das sich in den Kirchen sammelnde Protestpotential zügeln, als scheinbar unverfängliche organisatorische Alternative für Andersdenkende auftreten und Defizite in der sozialen Arbeit mit Randgruppen wie beispielsweise mit Behinderten und Homosexuellen ausgleichen.

Auch die westdeutschen bzw. Westberliner Freidenker wurden von den Ostberliner Bemühungen überrascht. Erstaunlich kritiklos reagierten die im Dortmunder Deutschen Freidenker-Verband organisierten: In einer Grußadresse schrieben sie: „Der Deutsche Freidenker-Verband freut sich darauf, in Euch Verbündete ... zu finden. ... In diesem Sinne wünschen wir Eurer Arbeit viel Erfolg und bitten, allen Mitgliedern des Arbeitsausschusses die solidarischen Grüße des DFV zu übermitteln.“2 Dabei hätte der zügige Aufbau von Vereinsstrukturen und die vergleichsweise üppige finanzielle Ausstattung der DDR-Freidenker viele Fragen nahe gelegt.

Die Westberliner Freidenker, traditionell in Distanz zu ihren westdeutschen Gesinnungsfreunden, waren klüger. In ihrer Hauszeitschrift „diesseits“ schrieb deren Vorsitzender damals, „daß bei der Einschätzung des DDR-Freidenker-Verbandes vorerst wohl eher Skepsis und nicht euphorische Freude am Platz ist“. Besonders die Nähe der DDR-Freidenker zur SED fiel auf: „Daß dies nur sehr wenig mit unserem Verständnis von Freidenkertum zu tun hat, kann indes keinem Zweifel unterliegen. Das Freidenkertum kann seiner Aufgabe nicht gerecht werden, wenn es lediglich als verlängerter Arm des Staats oder einer herrschenden Partei dient.“3

Als im September 1989 Hunderttausende in der DDR auf die Straßen gingen und in den Kirchen ein politischer Umbruch ungekannten Ausmaßes vorbereitet wurde, schwieg die Leitung der DDR-Freidenker. Die Westberliner Freidenker schrieben am 11. Oktober 1989 an den Präsidenten des Verbandes der DDR-Freidenker u. a.: „Die Gründung oppositioneller Zusammenschlüsse wie dem ‚Neuen Forum’ und anderen unter dem Dach der Kirche wirft für uns Fragen auf, warum es dem Verband der Freidenker nicht gelingt, sich aktiv und konstruktiv in die gesellschaftspolitischen Veränderungsprozesse und Auseinandersetzungen einzumischen und wieso es den Kirchen gelingt, diese Protestbewegung zu sammeln und sich als moralische Instanz in der Diskussion und zum Staat zu profilieren? Wenn wir von einer Freidenkerbewegung ausgehen, die die Verwirklichung eines freiheitlichen und demokratischen Sozialismus als eine wesentliche Voraussetzung zu einer humanistischen Lebensgestaltung ansieht, so ist es uns unverständlich, warum der Verband der Freidenker der DDR in dieser Frage bisher öffentlich sprachlos blieb.“4

Nachdem um die Jahreswende 1989/90 immer deutlicher wurde, welch problematischen Ursprung die DDR-Freidenker hatten, sahen auch die Westberliner Freidenker ihr Anliegen gefährdet. Am 27. März 1990 forderten sie ihre ostdeutschen Freunde ultimativ auf, „der Öffentlichkeit und den Mitgliedern in aller Ausführlichkeit und Offenheit die Umstände der Gründung und des Aufbaus des Verbandes darzulegen“ und als „ein sichtbares Zeichen des Neubeginns ... die Selbstauflösung des Verbandes“ zu beschließen.5 Das wollten die DDR-Freidenker jedoch vermeiden, zum einen in der Hoffnung, damit die etwa 12 000 eingetragenen Mitglieder für die weitere Arbeit zu sichern, zum anderen aufgrund finanzieller Interessen. So hatten die DDR-Freidenker im Sommer 1990 immerhin etwa 60 (!) hauptamtliche Mitarbeiter.6 Am 8. November 1990 beschloss die Mitgliederversammlung des Ostberliner Bezirksverbandes der DDR-Freidenker die Selbstauflösung und den Beitritt zum Deutschen Freidenker-Verband (Sitz Berlin West) . Und wenig später, auf dem Verbandstag am 1./2. Juni 1991 in Braunschweig, ging der (ehemalige) DDR-Freidenker-Verband organisatorisch im Deutschen Freidenker-Verband (Sitz Dortmund) auf.

Heute ist der Deutsche Freidenker-Verband politisch praktisch einflusslos. In der Sache fordern die Freidenker, was schon immer zu den klassischen Positionen der Freidenker gehört hat: Entschiedene Trennung von Staat und Kirche, Abschaffung des Religionsunterrichts, des Einzugs der Kirchensteuer durch die Finanzämter, der steuerlichen Abzugsfähigkeit der Kirchensteuer, Abschaffung der Theologischen Fakultäten, Streichung der direkten und indirekten Finanzhilfen an die Kirchen, Korrektur des kirchlichen Tarif- und Dienstrechts usw.

Bundesweit haben die Freidenker heute etwa 3000 Mitglieder7 bei einer extrem überalterten Mitgliederstruktur. Junge Mitglieder fehlen fast völlig, das Durchschnittsalter der aktiven Mitstreiter liegt nach einer internen Feststellung „irgendwo zwischen sechzig und siebzig Jahren“8. Auf dem Magdeburger Verbandstag im Juni 2000 musste man einräumen, dass „die Mitgliederentwicklung sowie die Altersstruktur ... Anlass zu ernsthafter Sorge über das Weiterbestehen des Verbandes (geben)“.9

Anfang des 21. Jahrhunderts sind die Freidenker in Deutschland in eine paradoxe Situation geraten. Nachdem sie jahrzehntelang mit freudiger Zustimmung die wachsende Säkularisierung beobachtet haben, drohen sie jetzt am Bedeutungsrückgang der Kirchen selbst zu scheitern. Nirgends sind sie so schwach wie da, wo auch die Kirchen schwach sind. Es reicht eben nicht, nur „gegen“ etwas zu sein. Die im Deutschen Freidenker-Verband organisierten Freidenker haben es versäumt, eigene politische Wertvorstellungen und kulturpolitische Ziele zu entwickeln.

Genau vier Jahre nachdem jener eingangs erwähnte Gründungsaufruf in den DDR-Zeitungen publiziert wurde, versammelten sich im nunmehr wiedervereinigten Berlin erneut Freidenker. Diesmal jedoch mit dem Ziel, eine neue, zugkräftige Organisation zu gründen, welche die Lethargie der traditionellen Freidenker überwinden sollte. Am 14. Januar 1993 wurde der Humanistische Verband Deutschlands (HVD) gegründet. Das Wort „Humanismus“ wird in diesem Kontext meist als nicht-religiöse Lebensauffassung verstanden. Der HVD hat zwar bundesweit nur etwa 10 000 Mitglieder, er entwickelt jedoch in einigen Regionen eine recht beachtliche soziale Arbeit. Damit hat sich der HVD von klassischen Freidenkerpositionen entfernt. Er fordert nicht mehr die radikale Trennung von Staat und Kirche (bzw. Weltanschauung), sondern reklamiert die finanzielle Unterstützung auch für sich - zumindest solange die großen Kirchen gewisse Privilegien haben und deren soziale Arbeit finanziell unterstützt wird. In Berlin unterhält der HVD inzwischen zahlreiche soziale Einrichtungen wie Sozialstationen, Beratungsstellen, Selbsthilfeprojekte, Kindertagesstätten usw. - überwiegend finanziert mit „Staatsknete“. Das gilt auch für den Lebenskundeunterricht, den der HVD in Berlin anbietet. Dieser Unterricht ist faktisch die freidenkerische Alternative zum Religionsunterricht. Derzeit besuchen etwa 33 000 Berliner Schüler/innen dieses freiwillige Fach. (Zum Vergleich: Knapp 90 000 besuchen den evangelischen, etwa 24 000 den katholischen Religionsunterricht.) Im HVD hat man jedoch noch ganz andere Pläne: So soll in Analogie zur kirchlichen Seelsorge in der Bundeswehr eine Art „humanistische Beratung“ aufgebaut werden. Wie auch immer das zuständige Bundesministerium einen entsprechenden Antrag aufnehmen wird: Früher oder später dürfte der HVD sein Anliegen beim Bundesverfassungsgericht vortragen. Spätestens dann ist klar: Weit haben sich die im HVD versammelten „neuen“ Freidenker von den klassischen Positionen der Freidenker entfernt - politisch geschickt könnte dieser Gesinnungswandel dennoch sein. Allemal pfiffiger als die SED-geleitete Gründung der DDR-Freidenker. Die hat den Untergang der DDR nicht aufhalten können. Ob die „neuen“ Freidenker aufzuhalten sind?

Dr. Andreas Fincke
Evangelische Zentralstelle für
Weltanschauungsfragen, Berlin

1. Neues Deutschland vom 14./15. Januar 1989.

2. Freidenker organisieren sich in der DDR, in: Freidenker 1/1989, 4.

3. Klaus Sühl, Freidenker-Verband in der DDR gegründet, in: diesseits 3/1989, 16f.

4. Brief des Deutschen Freidenker-Verbands (Sitz Berlin) vom 11. 10. 1989, in: diesseits 4/1989, 19.

5. Vgl. den Abdruck des Dokuments in: MIZ 1/1990, 30f.

6. Andere Zahlen nennt der „Bericht der Unabhängigen Kommission Parteivermögen über Freidenker und Jugendweihe-Ausschuß“. Hier heißt es: „Anfang 1990 arbeiteten laut Bericht 206 Hauptamtliche für die Organisation (gemeint sind die DDR-Freidenker - d. Verf.). Sie erhielt 1989 über 4,6 Millionen Mark (der DDR - d.Verf.) an Staatszuweisungen“ (diesseits 2/1998, 18).

7. Meine Anfrage nach der Zahl der Mitglieder hat der DFV leider nicht beantwortet. Die genannte Zahl orientiert sich an Wolfgang Kaul, Die freigeistige Bewegung und ihr Wirken in der Gesellschaft, in: humanismus aktuell 7/2000, 80.

8. Norbert Müller, Jugendarbeit als Zukunftsaufgabe des DFV, zu finden unter www.freidenker.de/aktuell/verbandstag2000_1.htm.

9. Ebd.

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Dieser Beitrag ist erschienen in Confessio 1/2004 ab Seite 06