Ästhetik des Vergehens

Zum Lebensgefühl der Gothic-Szene

Auch in diesem Jahr waren sie wieder zu Pfingsten in Scharen nach Leipzig gepilgert: das mittlerweile 13. Wave-Gotik-Treffen (WGT) zog knapp 20 000 „Schwarze“ in seinen Bann. Barocke Gewänder, schwarze Lederkorsetts, ausgefallene Frisuren und viel Metall am Körper oder an der Kleidung kennzeichnen die Szene, deren Anhänger als „Gothics“ oder, langsam aus der Mode kommend, auch als „Grufties“ bezeichnet werden.

Innere Vielfalt

Es ist nicht leicht, über diese Szene zu schreiben, weil sie trotz einiger auffälliger Gemeinsamkeiten doch sehr vielfältig ist. Alles, was im Folgenden festgestellt wird, gilt folglich nicht absolut, sondern es lassen sich meist auch Gegenbeispiele finden. Dennoch soll versucht werden, einige typische Grundzüge zu bennen.

Die Vielfalt beginnt bereits in der Musik. Jeder Versuch, die Szene über die Musik abzugrenzen, muss scheitern. Stammen die Anfänge der Bewegung noch aus dem englischen Punk der 1970er Jahre, so findet man mittlerweile die verschiedensten Musik-Genres im Zusammenhang mit der Gothic-Szene. Es gibt harte Gitarrenklänge mit stufenlosem Übergang zum Black-Metal, aber auch Industrial-Elektronik Sound, eher meditative New-Age-Musik ebenso wie Aufnahmen aus dem Neo-Folk mit Schalmeien und Dudelsäcken. Vielleicht ist eine Charakteristik der Gothic-Szene, dass sie - im Gegensatz zu anderen Jugendkulturen wie Raver, Metaller oder Skins - gerade keinen eigenen spezifischen Musikstil für sich abgegrenzt hat. Die Besonderheit dieser Szene definiert sich wohl weitaus stärker über die Ästhetik und ein bestimmtes Lebensgefühl.

Der Tod ist schick

Ihren Namen hat die Szene von den Gothic Novels, englischen Gruselgeschichten des 19. Jahrhunderts, in denen die in der Szene gepflegte Ästhetik des Todes zum Ausdruck kommt. Die Bilder und Gedichte in den Gothic-Musikzeitschriften sind von einer düsteren Melancholie bestimmt. Grabstätten, totenbleich geschminkte Gestalten, traurig-trostlose Augen, verlassene Gemäuer bestimmen die Atmosphäre. Verwesungsgeruch sprayen sie als Parfüm unter die Arme. Keine Frage - die intensive optische und inhaltliche Thematisierung des Todes stellt einen Grundzug der Szene dar. Beschäftigung mit dem Tod darf aber nicht mit Sehnsucht nach dem Tod verwechselt werden. Auch wenn aus manchen Gedichten eine Todessehnsucht zu sprechen scheint - die Masse der Szene legt Wert auf diesen Unterschied. Sie möchte lediglich durch die Beschäftigung mit dem Tod die Angst vor ihm überwinden, und ihn als Bestandteil des Lebens ernst nehmen. Ob die Suizidrate unter Gothics höher ist als bei anderen Jugendkulturen lässt sich mangels entsprechender Untersuchungen momentan nicht mit Sicherheit sagen. Einzelne Fälle erlauben keine Verallgemeinerungen, denn rein statistisch ist Suizid die zweithäufigste Todesursache im Jugendalter.

Man kann die starke Thematisierung des Todes in der Gothic-Szene durchaus als eine Reaktion auf ein gesellschaftliches Defizit verstehen. In dem Maß, wie der Tod aus dem realen Leben verdrängt und ausschließlich in Fernsehkrimis, Horrorfilmen und Nachrichtensendungen virtualisiert wird, entsteht eine Schieflage, die von Jugendlichen offenbar verstärkt wahrgenommen wird. Die intensive Thematisierung des Todes in Songtexten, Covergestaltung, Bildwelt, Kleidung, Gedanken und Gesprächen dient möglicherweise dazu, durch den Schwenk in das andere Extrem einen Ausgleich herzustellen.

Gepflegte Melancholie

Gleichwohl zieht sich die Ästhetik des Scheiterns als Grundzug durch die Szene. Eine gepflegte Melancholie („Mir geht’s schlecht, und das ist gut so.“) scheint mitunter prägend für das Lebensgefühl zu sein. Damit ist nicht ausgeschlossen, dass Gothics auch Spaß haben und lachen können, wie „normale“ Jugendliche auch - aber bitte nicht auf dem Foto. Jugendlicher Weltschmerz wird hier kultiviert.

Ein Stückweit verkörpert die Gothic-Szene damit einen gegenkulturellen Ausstieg aus der modernen Leistungsgesellschaft, in der nicht mehr Gewinn und Erfolg die höchsten Werte sind, sondern das Scheitern und das Ende, die Vernichtung und der Untergang mit wohligem Schaudern betrachtet und künstlerisch inszeniert werden.

Dies führt dazu, dass gerade solche Jugendliche in der Szene immer wieder Halt und Unterstützung finden, die aus den verschiedensten Gründen mit den Normen und Anforderungen ihrer Umwelt nicht zurecht kommen. Damit sind nicht nur schulische Leistungsprobleme gemeint, sondern ebenso soziale Erwartungen von Elternhaus oder Jugendclique. Manche Jugendliche, die nicht dem anorektischen Barbie-Ideal entspricht, kann in einem rüschenbesetzten Barock-Kleid mit Netzstrümpfen Szene-Intern Anerkennung und Selbstwertgefühl bekommen, das ihr sonst versagt bliebe.

New Romantics

Eine andere Selbstbezeichnung der Szene lautet „New Romantics“ und nimmt damit Bezug auf die Epoche der Romantik - zu Recht: z.B. viele Bilder Caspar-David-Friedrichs mit menschenleeren Landschaften und verfallenden Klöstern atmen genau diese morbide Ästhetik, die auch in der Gothic-Szene bestimmend ist. Ob eine solch einseitige Orientierung am Destruktiven für die jugendliche Entwicklung langfristig immer förderlich ist, darf - damals wie heute - bezweifelt werden.

Sozialstruktur

Im Blick auf die Sozialstruktur lassen sich - bei aller Vorsicht - einige Grundrichtungen benennen, die ungeachtet aller Ausnahmen festzustellen sind.

So ist zu bemerken, dass die Gothic-Szene sehr stark weiblich dominiert ist. Die größte Anziehungskraft hat sie offenbar auf junge Frauen, was Männer nicht ausschließt. Aber es ist auffällig, dass letztere dann oft feminin gestylt sind. Mitunter fällt die Unterscheidung der Geschlechter allein vom Äußeren extrem schwer.

Ferner scheint die Gothic-Mentalität stärker für die gebildeten Schichten attraktiv zu sein, jedenfalls sind deutlich mehr Gothics an den Gymnasien als an den Mittelschulen zu finden. Das mag mit dem Drang zur Selbstinszenierung zusammenhängen, vielleicht auch mit der intellektuell-spekulativen Ausrichtung der Szene. Dort unterhalten sich Jugendliche freiwillig und ohne Mithilfe eines Deutschlehrers über Nietzsche, schreiben selbst Gedichte, lesen Edgar Allan Poe und H.P. Lovecraft oder gestalten düstere Webseiten.

Möglicherweise damit zusammenhängend ist die allgemeine Ablehnung von Gewalt innerhalb der Szene. Sich prügelnde Gothics sind annähernd so selten wie sprechende Hunde. Gothics stehen eher auf der anderen Seite, sie empfangen das Leid, werden verprügelt und betrauern dann gemeinsam ihr Schicksal. Auch wenn sie oft auf Friedhöfen anzutreffen sind, randalieren würden sie dort nie. In einer aufgehebelten Gruft bei Kerzenlicht Rotwein trinken, das kommt vor. Aber Grabsteine umzustürzen ist nicht ihr Ding, denn „man zerstört ja auch sein Wohnzimmer nicht.“1 Die gegenkulturelle Ausstiegshaltung führt leicht zu einer betont unpolitischen Einstellung. Gothics sind tendenziell nicht die großen Weltverbesserer, sondern eher an der individuellen Gemütspflege interessiert.

Eine Randerscheinung sind die Gothics längst nicht mehr. Die Szene ist zum Mainstream unter den Jugendkulturen aufgerückt. Nicht nur europäische Großveranstaltungen wie das WGT, sondern auch die Anzahl der Monat für Monat erscheinenden auflagenstarken Musikzeitschriften mit Gothic-Schwerpunkt belegt die breite Ausstrahlung der Szene. Damit nimmt auch die Altersspanne zu. Angesichts mancher angehender Rentner unter den Mittelalter-Fans erweist sich „Jugendkultur“ gelegentlich als sehr dehnbarer Begriff.

Religion der Gothics

Die Religion der Gothics gibt es nicht. Schließlich handelt es sich nicht um eine Religionsgemeinschaft, sondern in erster Linie um eine Moderichtung, die mit dem beschriebenen Lebensgefühl gekoppelt ist. Dieser Mode hängen JugendlicheBild entfernt. (und vereinzelte Erwachsene) mit sehr unterschiedlichen religiösen Vorstellungen an. Sicherlich - das Thema Tod bringt ein besonderes Interesse für die Nachtseite des Lebens und Glaubens mit sich. Magie und Mystik, altes und neues Heidentum, Hexen, Druiden, Runen und Esoterik werden intensiv und nicht selten mit viel Sympathie diskutiert. Allerdings gibt es auch eine nicht zu unterschätzende christliche Minderheit unter den Gothics, die ihren christlichen Glauben nicht aufgeben, während sie auf Gothic-Partys gehen. Beispielsweise versammelte das Gothic-Christ zu Beginn des WGT 2004 etwa 100 Christen in der Leipziger Peterskirche. Ein schwarzes Outfit kennzeichnet folglich noch nicht eine bestimmte Glaubensüberzeugung. Die erfährt man nur im Gespräch mit den jeweiligen Individuen - und so individuell wie die Personen sind auch die Überzeugungen.

Gothics und Satanisten

Von besonderer Art ist das Verhältnis zwischen Gothic-Szene und Satanisten. Einerseits ist eine starke gegenseitige Affinität nicht zu übersehen. Gothics spielen vielfach mit Symbolen des Satanismus: hängen sich umgedrehte Kreuze um, nennen sich „Teufel“ (Tanzwut) oder zeigen die Hörner (HIM), ja nennen ihr Album sogar „schwarze Messe“ (Untoten). Andererseits werden diese Symbole nicht ernst genommen, dahinter steht (meist) kein geschlossenes „satanistisches“ Konzept - im Gegenteil: die Mehrzahl der Szene grenzt sich vom Satanismus ab: mit dem Kult des Bösen wollen sie nichts zu tun haben, seine Symbole dienen nur der Provokation. Eher fühlen sich die jungen Frauen zur neuen Hexenszene hingezogen, wollen weiße Magie zum Guten praktizieren und sich im Einklang mit dem Kosmos fühlen. Mit dem Teufel fühlen sie sich nicht im Bunde.

Allerdings muss man auch sehen, dass Satanisten die mangelnd ausgeprägten Abgrenzungstendenzen der Gothics ausnutzen, um unter diesen für ihre Ideen und Anschauungen zu werben. Insofern ist die Grenze zwischen Gothic-Szene und Satanismus fließend. Wenn sich Gothics auch als Satanisten bezeichnen - was wie gesagt die Ausnahme ist - dann meist in der Umdefinition nach A. S. LaVey zu einer Religion des radikalen Individualismus. Mit Tieropferungen und gewalttätigen Exzessen wollen sie in der Regel auch dann nichts zu tun haben.

Dr. Harald Lamprecht

ist Beauftragter für Weltanschauungs- und Sektenfragen der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens und Geschäftsführer des Evangelischen Bundes Sachsen.

Artikel-URL: https://www.confessio.de/index.php/artikel/181

Dieser Beitrag ist erschienen in Confessio 3/2004 ab Seite 09