Bewegung in der Blutfrage?

Zur Diskussion um Bluttransfusionen und Blutprodukte


Seit Jahren zählt das Thema der Bluttransfusionen zu den am heftigsten umstrittenen und kritisierten Bereichen in den besonderen  Lehrauffassungen der Zeugen Jehovas. Das alttestamentlich-jüdische Verbot des Blutgenusses wird von der Leitenden Körperschaft der Wachtturmgesellschaft nicht wie üblich auf das Essen, sondern auf den Empfang von Blut und Blutpräparaten bei medizinischen Behandlungen bezogen.
 

Gott oder Blut?

Funktional wird dieses Verbot der Inanspruchnahme von Blut  zu einer Prüfung der Glaubensstärke eingesetzt. Es kommt darauf an, auch und insbesondere angesichts des Todes Jehova die Treue zu beweisen. Wahre Christen könne man daran erkennen, dass sie lieber sterben, als eine möglicherweise lebensrettende Hilfe zu empfangen, die aber gegen göttliches Gebot ist. Dass es sich bei diesen Märtyrern nicht um Opfer für Gott, sondern für die verschrobene Interpretation  von Menschen handelt, gehört zu den tragischsten Folgen der Lehrbesonderheiten der Wachtturmgesellschaft.

Jehovas Zeugen haben viel Engagement in dieser Frage eingebracht. Medizinisch-wissenschaftliche Untersuchungen zur Vermeidung von Bluttransfusionen wurden ebenso unterstützt wie Berichte über Gefahren dieser Therapie. Auch wenn dies durch die zahlreichen medizinischen Argumente mitunter verschleiert wird: Entscheidend ist für Jehovas Zeugen nicht der medizinische, sondern der biblische Befund (wie er ihnen von der Wachtturmgesellschaft vermittelt wird). Auch wenn Bluttransfusionen die derzeit beste medizinische Technik wären, blieben sie für Zeugen Jehovas unakzeptabel, denn für sie hat das göttliche Gebot oberste Priorität.

LOGO AJWRBNun geht der Streit nicht darum, ob Gottes Geboten gehorsam zu leisten ist oder nicht, sondern was wirklich Gottes Gebot beinhaltet. Auch in den Reihen der Zeugen Jehovas gibt es eine Bewegung, die in der Blutdoktrin der Leitenden Körperschaft nicht Gottes Willen ausgedrückt finden kann und sich um eine Reform dieses Punktes bemüht (Vereinigte Zeugen Jehovas für eine Reform in der Blutfrage,  http://www.geocities.com/Athens/Ithaca/6236/ ). Ihr Anliegen schien unlängst ein Stück weiter gekommen zu sein.
 

Zwei Schritt vor und einen zurück

Ende Mai wurde bekannt, dass die Leitende Körperschaft der Zeugen Jehovas in ihrer Sitzung vom 24. Mai 2000 entschieden habe, die Annahme von Bluttransfusionen nicht mehr durch einen Gemeinschaftsentzug zu ahnden. Große Hoffnungen knüpften sich an diesen Beschluss, die aber bald relativiert wurden. Ein Artikel der englischen Zeitung "The Times" vom 14. Juni bezeichnete diese Änderung euphemistisch als die größte Kehrtwende in der Geschichte der Zeugen Jehovas seit dem Verzicht auf die Berechnung von Harmagedon nach 1975.

Eine daraufhin verbreitete Pressemitteilung der Wachtturmgesellschaft relativierte viele Aussagen des Presseberichtes und bezeichnete ihn als sachlich nicht gerechtfertigt. Es habe keine grundlegenden Änderungen gegeben. Weiterhin lehne man Bluttransfusionen grundsätzlich ab. Wenn ein Zeuge gegen seinen Willen eine Transfusion aufgezwungen bekomme, sei dies nicht seine Schuld. Wer eine empfangene Transfusion später bereue, werde seelsorgerlich betreut, könne aber trotz der schweren Verfehlung Mitglied der Gemeinschaft bleiben. Wer hingegen absichtlich und ohne Reue eine Transfusion annehme, zeige damit selbst, das er kein Zeuge Jehovas mehr sein will.

Die Änderung besteht demnach nur in einem kleinen Detail, gewissermaßen einer Verfahrensfrage: Nicht mehr die Versammlung spricht den Gemeinschaftsentzug aus, sondern die Tat wird als Aufkündigung der Gemeinschaft seitens des Empfängers der Transfusion gewertet. Das Ergebnis ist jedoch faktisch das gleiche: soziale Ächtung durch die Glieder der Glaubensgemeinschaft.

Taktische Gründe?

Fragt man nach den Motiven für diese Änderung, so sind verschiedene Aspekte zu bedenken. Wohlwollende Zeitgenossen können sich die Schwierigkeiten der Leitenden Körperschaft vor Augen halten. Selbst wenn sie tendenziell zu Lockerungen bereit ist, so ist dies doch nur in kleinen Schritten möglich, um nicht vor den eigenen Mitgliedern Ansehen und Glaubwürdigkeit zu verlieren. Wie sollte sie eine plötzliche "Freigabe" der Transfusionen dem Zeugen Jehovas erklären, der seine Frau wegen Blutverlust verloren hat?

Daneben ist das neue Verfahren in erster Linie eine kosmetische Änderung, die vor allem eine Wirkung nach außen hat. Die Blutfrage steht nicht mehr auf der Liste der Gründe für einen Gemeinschaftsentzug, es gibt offiziell keine automatischen Sanktionen mehr. Nicht die Gemeinschaft trägt die Schuld am Ausschluss des Mitgliedes, sondern das Mitglied selbst hat die Initiative ergriffen, indem es gewissermaßen durch die Tat den Austritt erklärte.

Blutspaltereien

Das Thema Blut war im Wachtturm vom 15. 6. 2000 Gegenstand eines Artikels in der Rubrik "Fragen von Lesern", aus dem aufmerksame Beobachter eine über die obengenannte Verfahrensweise hinausgehende Entwicklung in der Blutfrage geschlossen haben. Dass Blut selbst nicht übertragen werden darf, steht nicht zur Disposition. Die Frage ist, in wieweit dies auch für verschiedene Produkte gilt, die aus einzelnen Bestandteilen von Blut hergestellt werden. Hier entfaltet der Artikel eine differenzierte Sicht. Zunächst wird die traditionelle Position geschildert und das Verbot des Empfanges von Vollblut oder einem der vier Hauptbestandteile (Erythrozyten, Leukozyten, Thrombozyten, Blutplasma) bekräftigt. In Bezug auf Produkte, die aus Fraktionen von einzelnen Blutbestandteilen gewonnen werden (z. B. Interferone und Interleukine aus Leukozyten), werden hingegen verschiedene mögliche Meinungen beschrieben. Die "aufrichtige, gewissensmäßige Haltung" derer, die auch diese Produkte ablehnen, "sollte respektiert werden". Allerdings wird die Möglichkeit zugestanden, dass andere Christen eine davon abweichende Entscheidung treffen. Da z. B. bei der Schwangerschaft Blutfraktionen auch unter natürlichen Umständen von einer Person auf eine andere übergehen können (Mutter zum Kind), "kommen manche Christen zu dem Schluß, daß sie eine Blutfraktion, die aus Blutplasma, Erythrozyten oder Leukozyten gewonnen wurde, akzeptieren können." Der wichtigste Satz lautet: "Was Fraktionen aus einem der Hauptbestandteile [engl: fractions of any of the primary components] anbelangt, muß jeder einzelne Christ nach sorgfältigem Nachsinnen unter Gebet eine persönliche Gewissensentscheidung treffen."

Nach Auffassung der Vereinigung der Zeugen Jehovas für eine Reform in der Blutfrage könnte diese neue Freigabe von Fraktionen der zellulären Bestandteile des Blutes in die Gewissensentscheidung des Einzelnen die Anzahl der Todesopfer unter Zeugen Jehovas um die Hälfte reduzieren, sobald Blutersatzstoffe in einigen Jahren kommerziell verfügbar werden.

Bis dahin ist es freilich noch ein weiter Weg. Es steht zu hoffen, dass den kleinen Schritten weitere folgen werden, damit kein Zeuge Jehovas mehr zum Märtyrer seiner Organisation werden muß.
 

Harald Lamprecht, 7/2000


Neuere Diskussion im Deutschen Ärzteblatt zur Frage der Bluttransfusionen bei Zeugen Jehovas:

Artikel-URL: https://www.confessio.de/index.php/artikel/18