Mythos oder Wahrheit?

Zeugen Jehovas kritisieren kirchliche Glaubenslehren

Die Novemberausgabe des Wachtturms von 2009 widmet sich ausführlich der Auseinandersetzung mit kirchlicher Theologie - oder dem, was Zeugen Jehovas als solche ausgeben. Es werden sechs Glaubenslehren untersucht und als „Mythen“ bezeichnet. Kernthese dabei ist, dass die Kirchen bereits ab dem 2. Jahrhundert christliche Glaubensansichten mit griechischer Philosophie vermischt und damit die christliche Wahrheit zu Mythen verfälscht hätten. Die Darstellung im Wachtturm folgt dabei stets demselben Schema: Zunächst werden historische und geistesgeschichtliche Einflüsse auf die Lehrbildungen herausgestellt. Dem werden ausgewählte Bibelstellen entgegengesetzt und schließlich die eigene Interpretation des Themas als Fakt festgestellt. So entsteht das Bild einer Kirche, die sich durch nichtchristliche Einflüsse von der Bibel entfernt habe und ihre Anhänger täusche, während die Zeugen Jehovas an der biblischen Wahrheit festhalten würden.

Weil Zeugen Jehovas in Haustürgesprächen bereits die Argumentationen aus dieser Wachtturmausgabe verwendet haben, sollen sie einer näheren Betrachtung unterzogen werden. Dabei zeigt sich deutlich, wie Zeugen Jehovas selbst sehr auswählend mit der Bibel umgehen, wenn es darum geht, einen Beleg für eigene Lehraussagen zu konstruieren.

Göttlich und menschlich sortieren?

Zeugen Jehovas betrachten die Bibel als abgeschlossenes Gebilde unmittelbarer göttlicher Offenbarung, das von menschlichen Einflüssen zu reinigen und zu bewahren sei. Dabei übersehen sie, dass Gott selbst mit der biblischen Offenbarung sein Wort in menschliche Formen gegeben hat. Bereits Jesus benutzte Gleichnisse aus dem Leben seiner Umwelt und nahm deren Lebensvorstellungen und Denkgewohnheiten in seine Verkündigung auf. Nicht anders benutzten dann christliche Schriftsteller im ersten und zweiten Jahrhundert auch griechisches („hellenistisches“) Gedankengut, um theologische Glaubensinhalte ihren Lesern lebensnah zu erklären. Schon bei Paulus drang der Hellenismus in die Glaubenslehre ein, was z.B. an den griechischen Begriffen „kyrios“ (griech.: allg. Hausherr) und „psyche“ (griech.: Geist) zu erkennen ist. Wollte man also wie die Zeugen Jehovas eine vermeintlich zeitlose göttliche Wahrheit vor der Verbindung mit menschlichen Denkvorstellungen schützen, dann müssten konsequenterweise solche Mythen also bereits in den Paulusbriefen, dem Johannesevangelium oder der Offenbarung „entlarvt“ werden! Von der Bibel bliebe kaum etwas übrig, wenn man alles Menschliche aus ihr entfernen wöllte.

Die unsterbliche Seele

Der erste Mythos, den die Zeugen Jehovas aufdecken wollen, handelt von der Unsterblichkeit der Seele. Ihrer Darstellung nach entwickelten frühchristliche Philosophen unter dem Einfluss des Platonismus die Lehre der göttlich geschaffenen Seele, die dem Embryo bei seiner Empfängnis eingeflößt wird. Im Alten Testament jedoch sei der gesamte Mensch eine „lebende Seele“, so dass er auch mitsamt seiner „Seele“ sterbe (Ez 18.1.20; Apg 3,23 u.a.). „Nefesch“, den Gott im Schöpfungsbericht (Gen 2,7) dem Menschen gibt, sei keine unsterbliche Seele sondern „Lebenskraft“. Daher kommen die Zeugen Jehovas zu dem Ergebnis, dass mit dem Tod der Mensch aufhört zu existieren.

Es ist richtig, dass der hebräische Begriff „Nefesch“, den Luther mit „Odem“ im Sinne von Lebensatem übersetzt, enger an den Körper gebunden ist als die griechische Vorstellung der Seele. Die Behauptung vom absoluten Ende der Existenz im Tod übersieht aber, dass an verschiedenen Stellen der Bibel der Tod als Trennung von Leib und Seele beschrieben wird, welche bei Gott bewahrt wird (Mt 10,28; Pred 12,7).

Der christliche Glaube geht davon aus, dass die Menschen von Gott zur Gemeinschaft mit ihm bestimmt sind. Dieser Gemeinschaftswille geht über den Tod hinaus. Der Tod ist zwar das Ende des irdischen Lebens, doch nicht das Ende des Weges mit Gott, der die Existenz ausmacht. Gott hat die Menschheit durch sein Kommen in Jesus Christus von dem endgültigen Tod erlöst. Evangelische Christen vertrauen darauf, dass die eigene Identität/Seele im Sterben nicht ausgelöscht wird, sondern bei Gott weiter existiert. Doch wie dies geschehen wird, bleibt unergründlich.

Die Hölle

Laut Zeugen Jehovas rief die Erschaffung des Mythos von der unsterblichen Seele die Frage hervor, was mit ihr nach dem Tod geschieht. So sei der zweite Mythos „Hölle“ entstanden. Auch hier soll platonisches Gedankengut in den christlichen Glauben eingedrungen sein. Die Kirche lehre, dass Seelen, die im Stand der Todsünde sterben, in die Unterwelt „Hölle“ gelangen. Hier werde die Seele für immer gequält. Dagegen halten die Zeugen Jehovas die alttestamentliche Vorstellung des Totenreiches (Scheol; vgl. Ps 146,3.4; Röm 6,7.23), das mit „Hölle“ gleichgesetzt wird. In der Scheol würden Tote keinesfalls gequält, sondern „wissen nichts“ (Pred. 9,5.10). Biblisch wäre mit „Hölle“ ein allgemeines Grab der Menschheit gemeint, in dem alle menschliche Aktivität aufhört. Da Gott Liebe ist (1Joh 4,8), gehen die Zeugen Jehovas davon aus, keine Sünde könnte Gott veranlassen den Menschen mit endloser Qual zu strafen. Folglich existiere keine Hölle.

Die Scheol des Alten Testament ist tatsächlich das allgemeine Totenreich, in das Gerechte und Ungerechte unterschiedslos eingehen (Pred 3,20). Im Neuen Testament wird bei der Beschreibung des Weltgerichts (z.B. Mt 25) allerdings neben dem ewigen Leben in Gegenwart Gottes („Himmel“) auch die Möglichkeit der ewigen Strafe beschrieben (vgl. Joh 5,24). Für den sündigen Menschen, der sich selbst von Gott trennt, kann der Tod die endgültige Verlassenheit von aller Gemeinschaft mit Gott sein. Diese Gottesferne wird als „Hölle“ bezeichnet (vgl. Ps 88,6). Die Annahme der Zeugen Jehovas, der Mensch könnte Gott nicht so kränken, dass er sich von ihm abwenden würde, ist im Prinzip richtig. Jedoch enthält die Bibel, vor allem das Alte Testament, auch zahlreiche Aussagen über Gottes Zorn und seine Strafen. Jesus selbst beschreibt einen „Ort mit Heulen und Zähneklappern“, an welchem Ungerechte sein werden (Mt 24,51; 25; 30). Diese Vorstellung vermischte sich in der Frömmigkeit mit dem Wort „Hölle“.

Evangelischen Christen verstehen unter „Hölle“ nicht einen konkreten Ort, sondern den Zustand der ewigen Gottesferne, wie ihn diese biblischen Aussagen beschreiben.

Der Himmel

Ein weiterer Mythos, den die Zeugen Jehovas entlarven möchten, handelt vom Gegenstück der Hölle, dem Himmel. Ebenfalls im 2. Jahrhundert formulierten Kirchenväter, dass geläuterte Seelen guter Menschen im Anschluss an den Tod himmlische Glückseligkeit erlangen. In der Bergpredigt aber hätte Jesus seinen Jüngern die Erde als Heimat (Mt 5,5) verhießen. Neben dem Versprechen, eine „Stätte im Himmel“ zu bereiten, ließe er anklingen, dass nicht alle guten Menschen automatisch dahin kämen (Joh 3,13; 14,2.3). Auch die Vater-unser-Bitte „Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden“ wird von den Zeugen so gedeutet, dass die Erde als Ort der Menschen bestehen bleibt. Die Zeugen Jehovas entwickeln daraus die Lehre, dass nur eine Minderheit mit Jesus im Himmel regieren werde (Joh 17,3; 2Tim 2,11.12), während die Mehrheit der guten Menschen für immer auf der Erde leben würden (Offb. 5,10; Ps 37,10.11.29).

Wie bereits im letzten Abschnitt ausgeführt, rechtfertigen biblische Aussagen die Vorstellung von einem doppelten Ausgang des jüngsten Gerichts mit der Unterscheidung von ewigem Leben („Himmel“) und die ewiger Trennung von Gott („Hölle“).

Jesu Andeutung, dass nicht alle in den Himmel kämen (Joh 3,13; 14,2.3) kann daher als Warnung interpretiert werden, dass sich jeder Mensch dem Gericht Gottes stellen muss. Auch die Vater-unser Bitte „Dein Wille geschehe“ (Mt 6,10) kann anders gedeutet werden. Das Reich Gottes ist durch Jesu Kommen bereits in der Welt angebrochen, (vgl. Mt. 4,17; Lk 17,21) aber noch nicht vollendet. Diese Vollendung wird am jüngsten Tag geschehen. Da die Erdenzeit noch nicht abgelaufen ist, soll sich Gottes Wille daher schon jetzt auf Erden erfüllen.

Die Lehre, dass nur eine Minderheit mit Christus im Himmel regieren soll, ist eine spezifische Sonderlehre der Zeugen Jehovas und bezieht sich auf die als exklusive Zahl missverstandene Angabe von 144 000 Erlösten in der Offenbarung (Offb. 7,4ff.; 14,1-6). Demnach sei diese Zahl inzwischen erreicht und auch Zeugen Jehovas, die nach 1935 geboren wurden, hätten keinen Platz mehr. Das Himmelreich lässt sich jedoch nicht in Zahlen beschreiben! Diese Sonderlehre macht vielmehr ein Zwei-Klassen-Christentum auf, indem zwischen den 144 000 Geistgesalbten und der „großen Volksmenge“ unterschieden wird.

Evangelische Christen hoffen und glauben, dass alle, die ihre Sünden bereuen und sich zu Jesus Christus als ihrem Herrn bekennen, zu Kindern Gottes werden (Mt 5,9 1.Joh 3,1). Ihnen ist ein Erbteil im Himmel (1Petr. 1,4) und das ewige Leben bei Gott auf einer „neuen Erde“ (Offb 21,1) verheissen worden. Darauf vertrauen sie, ohne über den konkreten Ort zu spekulieren, geschweige denn Mitchristen mit weniger als der ganzen Verheißung abzuspeisen.

Der dreieinige Gott

Bei den folgenden Mythen, die die Zeugen Jehovas „enttarnen“ wollen, geht es hauptsächlich um kirchengeschichtliche Entwicklungen. Zunächst nennen sie das Dogma der Dreieinigkeit Gottes, welches eine Erfindung des späten 4. Jahrhunderts sei. Auf dem Konzil von Nicäa 325 schlug Kaiser Konstantin die Formel „wesenseins“ vor, um aufgekommene Streitigkeiten zu beseitigen. Gott wurde nun als „ein Gott in drei Personen“ verstanden. Als biblischen Beleg für die Nichtexistenz der Dreieinigkeit führen die Zeugen neben Mt 26,39, 1Kor 15,27.28 und anderen Stellen besonders Apg 7,55f. an: In einer Vision beschreibt Stephanus Jesus als eigenständiges Geistwesen, das zur Rechten Gottes sitzt, und damit erwiesenermaßen auch nach seiner Auferstehung nicht wesenseins mit Gott-Vater sei. Der Heiligen Geist als dritte Person trete nicht in Erscheinung. Die Trinitätslehre sei daher unbiblisch.

Tatsächlich wird die Trinität in der Bibel nicht als eigenständige Lehre entfaltet. Doch sie lässt sich durchaus biblisch rekonstruieren, z.B. aus dem Johannes-Evangelium. Dort wird Jesus als „eins mit dem Vater“ bezeichnet (Joh 10,30; 14,9-11; 17,11.21f), jedoch als zwei „Personen“ auf Erden und im Himmel beschrieben (Jesus betet zum Vater: Joh 17). Mit der Rede von dem „Tröster“, führt Jesus selbst eine dritte Person ein, die von ihm und seinem Vater unterschieden ist (Joh 16,7-14; 20.22). Auch an anderen Stellen des Neuen Testamentes tauchen die drei Namen, Gott-Vater, Jesus der Herr und der Heilige Geist gemeinsam auf (1Kor 12,4ff.; Apg 4,4ff und öfter). Erhaltene Taufbekenntnisse belegen, dass schon in frühester Zeit Christen auf den dreieinigen Gott getauft wurden. Wie diese zusammengehören, wurde im 2. Jahrhundert schließlich zum Gegenstand der theologischen Reflexion, deren Ergebnis das Trinitätsdogma war. Es war ein Versuch, das trinitarische Bekenntnis der Christen in Worte zu fassen. Auf dem Konzil in Nicäa 325 wurde also in theologischen Begriffen festgeschrieben, was die Gemeinden bereits glaubten.

Die Formulierung „ein Gott in drei Personen“ klingt heute anders, als es damals gemeint war. Der Personenbegriff hat sich gewandelt. Damals bedeutete das Wort eher Maske bzw. Rolle, heutzutage wird er auf das individuelle Selbst bezogen. Daher ist in dem Dogma nicht von „Gottespersonen“ die Rede, sondern von den drei Offenbarungsarten Gottes. Er offenbart sich in seinem Heilshandeln dreifach: als Vater, in der Sendung des Sohnes und in der Ausgießung des Heiligen Geistes. Nichts anderes besagt das Trinitätsdogma.

Maria, Mutter Gottes

Eine weitere Kirchenlehre, welche die Zeugen Jehovas als unwahr entlarven möchte, betrifft Maria, die auch als „Mutter Gottes“ bezeichnet wird. Den Ursprung dieser Lehre sehen Zeugen Jehovas in der Zeit, als viele Heiden sich zum Christentum bekehrten. Diese hätten Teile ihrer „alten“ Religiosität mit der christlichen Lehre vermischt. So sei z. B. die Verehrung der „Großen Mutter“ auf Maria übertragen worden. In der Bibel fände sich jedoch einzig die Verheißung an Maria, ein Kind zu bekommen, welches von der Welt „Sohn Gottes“ bzw. „Sohn des Höchsten“ genannt werden würde (Lk 1,31-35). Maria sei daher lediglich Mutter des Sohnes Gottes (vgl. Mt13,53-56; Mk 3,31-35; Lk 11,27-28). Weiterhin führen die Zeugen Jehovas an, dass nach 1Kön 8,27 die Herrlichkeit Gottes selbst „die Himmel nicht fassen“ können. Wie sollte es da einem Menschen möglich sein? Das Dogma, das Maria zur „Gottesgebärerin“ machte, wurde auf dem Konzil in Ephesus 431 festgeschrieben. Da in Ephesus ein Zentrum des Fruchtbarkeitskultes um die Göttin Artemis war (vgl. Apg 19,35), sehen sich die Zeugen Jehovas in ihrer Theorie des heidnischen Ursprungs der Marienverehrung bestätigt.

Bei der Entstehung des Dogmas wurden zwei biblische Vorstellungen miteinander verbunden: die Präexistenzvorstellungen Jesu (1Kor 8,5; Phil 2,5ff. und öfter) und die Vorstellung der Jungfrauengeburt (Mt 1,22; Jes 7,14). Das Geheimnis der Geburt Jesu wurde unterstrichen (vgl. Mt 1; Lk 2). Die Formulierung „Gottes Mutter“ ist letztlich eine logische Konsequenz der Überlegungen zu Jesus und der Dreieinigkeit Gottes. Jesus wird von den Christen als wahrer Mensch und wahrer Gott bezeugt. Da Gott in ihm Fleisch geworden ist, folgt daraus, dass Maria, als sie Jesus gebar, nicht allein Mutter eines Menschen, sondern gleichzeitig auch „Mutter Gottes“ wurde. Wie dieses genau geschehen konnte, ist nicht rational völlig erklärbar und bleibt ein Geheimnis des Glaubens.

Ob in die vor allem in der katholischen Kirche verbreiteten Verehrung Mariens heidnische Rituale eingeflossen sind, lässt sich weder beweisen noch widerlegen. Es muss jedoch auch beachtet werden, dass Christen in einer gesellschaftlichen Welt leben, in welcher sich Elemente vermischen und gegenseitig beeinflussen. Dies stellt uns immer wieder vor die Aufgabe, Erkenntnisse an der Bibel zu prüfen.

Evangelische Christen beten Maria nicht an und sehen sie auch nicht als Fürsprecherin neben Jesus. Dennoch genießt Maria auch in evangelischen Kreisen Hochachtung, denn ihr Glaube und ihre Demut werden in der Bibel als vorbildlich beschrieben.

Bilder

Der sechste Mythos, den die Zeugen Jehovas aufklären wollen, bezieht sich auf den Gebrauch von Bildern und Ikonen bei der Anbetung Gottes. Schon in der Frühzeit wurden trotz Bilderverbots (Ex 20; Dtn 5) Kirchen mit solchen dekoriert, und machten im 4./5. Jh. eine Stellungnahme der Theologen notwendig. Die Verwendung von Bildern wurde als Träger christlicher Inhalte legitimiert, zunächst um auch Menschen zu erreichen, die einen niedrigeren Bildungsstand hatten. Schnell hätte sich aber der didaktische und dekorative Zweck der Bilder zu einer Anbetung gewandelt. In der Bibel dagegen wird in den 10 Geboten ein deutliches Bilderverbot ausgesprochen (Ex 20,4.5). Im Neuen Testament werden Christen eindeutig vor Götzendienst gewarnt (1Joh 5,21). Außerdem heißt es (Jes 40,18; Apg 10,25 u.a.), dass es für Gottes Herrlichkeit kein angemessenes Bild gibt. Dies alles würde beweisen, dass Bilder und Ikonen von Gott nicht gebilligt würden.

Dem ist zu entgegnen, dass die als Antwort auf die Volksfrömmigkeit entwickelte Bildertheologie jedoch ihre Fundamente durchaus in der biblischen Offenbarung hat. Jesus Christus wird als „Bild“ Gottes (2Kor 4,4; Kol 1,15) beschrieben und kann daher als Darstellung der unsichtbaren, nicht darstellbaren Wirklichkeit Gottes verstanden werden. Gott machte sich durch seine Inkarnation in Jesus Christus selbst sicht- und greifbar. Seine Menschheit kann abgebildet werden, in welcher sich die mit ihr geeinte Gottheit manifestiert. Dadurch ist Bilderverehrung (nicht Anbetung!) möglich. Das alttestamentliche Abbildungsgebot, das sich v.a. auf die Unsichtbarkeit und Unfassbarkeit der Herrlichkeit Gottes bezieht, wurde durch seine Menschwerdung radikal relativiert.

Das Konzil von Nizäa 787 erlaubte den Bilderkult als ehrerbietige Verehrung, die jedoch von der wahren Anbetung Gottes unterschieden wird. Auf dem Konzil in Konstantinopel 843 wurde dies endgültig umgesetzt.

Die Bilder in evangelischen Kirchen sind keine Götzenbilder und werden von evangelischen Christen nicht angebetet.

Fazit

Glaubenslehren an der Bibel zu prüfen, ist auch für evangelische Christen unerlässlich. Durch den reformatorischen Grundsatz „sola scriptura“ ist ausgedrückt, dass die kirchliche Lehre keine andere Grundlage haben darf. Dabei ist jedoch auch zu beachten, dass es nicht die eine Theologie der Bibel gibt, sondern dass in ihr als „Buch der Bücher“ verschiedene Erfahrungen und Sichtweisen zusammengefasst sind. Biblische Verse können von verschiedenen Menschen unterschiedlich interpretiert werden. Eine wahrhaft objektive Beurteilung, wie sie die Zeugen Jehovas fordern, ist zu keiner Zeit vollständig möglich. Die von den Zeugen Jehovas als „Mythen“ bezeichneten Kirchenlehren werden zum Teil von den Kirchen gar nicht in der von ihnen beschriebenen Weise vertreten. Zum anderen Teil lassen sie sich aus anderen, von den Zeugen nicht zitierten Bibelstellen nachweisen und begründen. Mitunter steht hier Vers gegen Vers.

Als Denkirrtum erweist sich die Fiktion, man könne das reine „christliche“ von allen „heidnischen“ Elementen frei halten. Entscheidend für die Beurteilung ist aber nicht, ob irgendwo irgendeine Glaubenslehre mit Gedanken aus menschlichem Umfeld kontaminiert wurde, sondern ob sie der biblischen Mitteilung entspricht und aus ihr zu folgern ist. Diese Frage müssen sich alle Christen immer wieder stellen – auch die Zeugen Jehovas.

Dipl. theol. Dorothea Weiss

war 2009/2010 Praktikantin an der Arbeitsstelle für Weltanschauungsfragen.

Artikel-URL: https://www.confessio.de/index.php/artikel/243

Dieser Beitrag ist erschienen in Confessio 1/2010 ab Seite 06