Gespräch zwischen M. Fritz und M. Bauer vor Präsentation mit Überschrift „Humanismus als Konfession?“
Dr. Martin Fritz (EZW) und Michael Bauer (Humanistische Vereinigung) im Gespräch beim Nürnberger Kirchentag 2023

Humanismus als Konfession?

Diskussion über religionsfreie Wertevermittlgung auf dem Kirchentag in Nürnberg

Wenn man während des Kirchentages in Nürnberg vom Bahnhof in die Innenstadt ging, suchten einige Meter vor dem offiziellen Kirchentagsveranstaltungsgelände ein zorniger Mose und ein nackter Luther die Aufmerksamkeit des Laufpublikums. Installiert hatte sie die „Aktion 11. Gebot“ der „Giordano-Bruno-Stiftung“ (GBS). Die GBS gehört zum kämpferischen Flügel des Atheismus und wendet sich mit diversen Aktionen gegen jegliche staatliche Unterstützung für religiöse Angelegenheiten. Die in Deutschland bestehende Trennung von Staat und Religion geht ihr nicht weit genug, weil sie dem Staat dennoch erlaubt, kooperativ mit Religionsgemeinschaften zusammenzuarbeiten. Wenn also die Stadt Nürnberg und der Freistaat Bayern ähnlich wie sie Kultur- und Sportereignisse unterstützen auch den Kirchentag mit einem Zuschuss bedenken, dann haben diese Institutionen durchaus auch selbst etwas davon. Der damit verbundene Fremdenverkehr belebt die Region und bringt auch wieder erhebliches Geld in die Kassen ein. Außerdem unterstützt der Staat ein Event seiner Bürgerinnen und Bürger, von dem viele nützliche gesellschaftspolitische Impulse ausgehen. Aber darum geht es nicht. Die Fundamentalisten des Atheismus bei der GBS stört jede Religion – und deshalb auch jede staatliche Kooperation mit jeder Religion.

Humanistische Vereinigung

Ganz anders steht es mit einer anderen durchaus auch kirchenkritischen Organisation im atheistischen Umfeld: der Humanistischen Vereinigung (HV). Sie ist nach dem Humanistischen Verband Deutschland (HVD) die zweitgrößte humanistische Organisation in Deutschland und besteht schon seit 175 Jahren, denn am 24.12.1848 hatte die „Freie christliche Gemeinde Nürnberg“ (wie sie damals hieß) ihre Gründungsversammlung. Überhaupt hat Nürnberg da eine gewisse Tradition: Ludwig Feuerbach (†1872) hat dort gewirkt, und als Stadt der Arbeiterbewegung ist Nürnberg auch früh mit der Freidenkerbewegung und entsprechenden antikirchlichen Impulsen verbunden, nicht zuletzt, weil die Kirche sich nicht besonders früh um die Arbeiter gekümmert hat.

Richtungen

Grob gesagt können in der säkularen Szene in zwei Hauptrichtungen unterschieden werden. Beide sind geprägt von Idealen der Aufklärung und des Humanismus, unterscheiden sich aber in der Art und Intensität ihrer Kirchen- und Religionskritik.

Auf der einen Seite standen die protestantischen „Lichtfreunde“ und die „Deutschkatholiken“, die sich in Abgrenzung von bestimmten kirchlichen Lehren und Praktiken entschieden für ein aufgeklärtes Christentum einsetzten. Daraus entstanden – zunächst noch auf dem Boden des Christentums – sogenannte „Freireligiöse Gemeinden“. Gegenwärtig gehören der HVD und die HV zu dieser Strömung, die einen praktischen Humanismus vertreten und sich aktiv an der Wertebildung in der Gesellschaft beteiligen möchten – in Analogie und auch Konkurrenz zu den christlichen Kirchen. Das bedeutet, dass sie darum ringen, ihren ererbten oder errungenen Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts zu nutzen, um ebenso wie die Kirchen Weltanschauungsunterricht in Schulen geben, Militär- und Gefängnisseelsorge anbieten und Leistungen der Altenpflege organisieren zu können. Die Privilegien der Kirchen werden nur insoweit kritisiert, als sie eine Ungleichbehandlung beinhalten. Sie sollen aber nicht generell abgeschafft, sondern für die eigene Organisation nutzbar gemacht werden.

Auf der anderen Seite steht die Linie der „Freidenker“, die eine radikalere Kirchen- und grundsätzlichere Religionskritik vertreten. 1880 entstand der internationale Freidenkerverband. Diese propagieren einen strengen Laizismus mit einer strikten Trennung von Staat und Religion, welches allerdings Synonym und Voraussetzung für die angestrebte möglichst weitgehenden Ausgrenzung von Religion aus dem öffentlichen Bereich darstellt. Zu dieser Linie gehören z.B. der Bund für Geistesfreiheit und die erwähnte Giordano-Bruno-Stiftung. Diese Organisationen kämpfen gegen jegliche Privilegien für Religionsgemeinschaften und für deren Abschaffung.

Im Dialog

Im Rahmen des Zentrums Weltanschauungen auf dem Nürnberger Kirchentag war Michael Bauer von der HV Nürnberg zu einer Diskussionsveranstaltung mit PD Dr. Martin Fritz, Referent für theologische Grundsatzfragen bei der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW) in Berlin eingeladen und erläuterte seine Position. Humanismus bedeute für ihn, dass es um den Menschen geht. Organisationen wie die Giordano-Bruno-Stiftung, die sich an Organisationsfragen abarbeiten, würde er nicht unbedingt als „humanistisch“ bezeichnen. Humanismus sei nicht gleichzusetzen mit Atheismus. Es gebe ihn in christlicher, islamischer aber eben auch säkularer Ausprägung. Seine Organisation beziehe sich nicht auf Religion – da ist viel Spielraum, für Atheismus, Agnostizismus, Indifferenz, aber auch Religion und Spiritualität. Er versteht Humanismus eher als Haltung denn als Weltanschauung. Dass Religion und Weltanschauung aus dem öffentlichen Raum verdrängt werden, ist nicht sein Anliegen, sonst würde solches sich ja auch gegen die eigene Organisation richten.

Mittelverteilung und Seelsorgestellen

Zu dem Zuschuss des Kirchentages von mehreren Mio. Euro aus Steuergeldern gratuliert Michael Bauer und kritisiert es nicht im Grundsatz – die humanistische Vereinigung hätte das Geld nur auch gern bekommen. Wenn Politik als „Verteilung von Mitteln“ definiert wird, fordert er eine Neujustierung des Systems. Das stammt noch aus der Adenauer-Zeit und geht davon aus, dass im Prinzip alle Bürgerinnen und Bürger Mitglieder einer Kirche sind und es daneben lediglich ein paar Ausnahmen gibt. So ist es aber längst nicht mehr. Auch der Islam sei darin nicht wirklich abgebildet. Ziel sei ein institutioneller Rahmen, in dem alle Bürgerinnen und Bürger gleiche Chancen haben.

Konkret nennt er den Wunsch nach Zugang zu den besonderen Seelsorgestellen in Gefängnissen, Krankenhäusern und beim Militär. Dies sei eigentlich gesetzlich garantiert und werde auch vom Staat finanziert, aber tatsächlichen Zugang hätten nur evangelische, katholische und neuerdings einzelne jüdische Personen. Im Kern bedeutet eine faire Verteilung der Mittel und gleiche Zugänge zur Infrastruktur, dass die Privilegierten eben runtermüssen von ihren Privilegien – das ist schmerzhaft, denn es kostet Geld und Stellen, so Michael Bauer.

Ausbildungsniveau

Im Grunde gibt es innerhalb der Kirchen durchaus eine Bereitschaft, auch andere Religionen entsprechend dem tatsächlichen Vorkommen an der Seelsorgearbeit zu beteiligen. Deutlich ist das z.B. in den vielfältigen praktischen Bemühungen zur Unterstützung der Einrichtung muslimischer Seelsorgestellen. Eine notwendige Bedingung dafür aber ist, dass das hohe fachliche Niveau dieser Arbeit, aus dem die breite Anerkennung in der Bevölkerung resultiert, nicht durch eine solche Öffnung zerstört wird. Das bedeutet, dass die Personen zwingend eine entsprechende Ausbildung brauchen. Anerkannter Standard ist dabei die „Klinische Seelsorge Ausbildung“ (KSA), die die u.a. psychodynamischen Prozesse solcher Begleitung in Gruppensitzungen reflektiert und z.B. vermeiden soll, dass die Ratsuchenden durch die Seelsorgeperson subtil manipuliert werden. Beliebige Heilpraktikerabschlüsse genügen dafür nicht.

Seelsorge ohne Seele?

Im Blick auf „humanistische Seelsorge“ stellt sich darüber hinaus die Frage, auf welcher Basis denn hier „Seel“-Sorge betrieben werden soll, wenn ja doch faktisch eher religionslose Menschen sich in der HV engagieren, bei denen das Konzept „Seele“ eher weniger anerkannt ist. Genauer gesagt: Worin unterscheidet sich solch religionslose „humanistische Seelsorge“ von einer fachpsychologischen Betreuung? Diese gibt es ja längst und wird von den Sozialleistungsträgern bezahlt. Sie arbeitet ebenfalls ohne eigene religiöse Vorannahmen und nimmt den Menschen in den Blick – auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse. Wäre die Einrichtung einer „humanistischen Seelsorge“ da nicht eine unsinnige Doppelstruktur – so wird aus dem Publikum gefragt.

In seiner Antwort sieht Michael Bauer durchaus einen Unterschied. Die psychologische Betreuung sei etwas Medizinisches. Damit pathologisiere sie den Ratsuchenden zum Patienten. Seelsorge hingegen als Gespräch auf Augenhöhe über Lebensfragen solle jedem Menschen auch ohne krankhafte Probleme und vorbeugend zukommen können. Darin ist ihm zwar im Grunde zuzustimmen. Es blieb aber völlig unbestimmt, auf Basis welcher überindividuellen Werte und Perspektiven eine solche Seelsorge erfolgen und was denn dann nun genau eine „humanistische Seelsorge“ beinhalten soll.

Wertetauziehen

Der Humanismus habe keine heiligen Schriften und folglich auch keine verbindlichen Wertenormen – da müsse jeder selbst drauf kommen im permanenten Diskurs, erklärt Michael Bauer. Selbst Nachdenken, Rationalität und Mitmenschlichkeit seien Grundprinzipien. Alles Übrige entsteht im Gespräch, in der Verständigung miteinander. Dieses Prinzip des permanenten Aushandelns in einem diskursiven Prozess schilderte Ulrike von Chossy, pädagogische Leiterin der HV, auch als Grundprinzip in den mittlerweile 20 Kindertagesstätten der Organisation. Die Kinder philosophieren, sobald sie sprechen können. Es gibt kein „richtig“ oder „falsch“, Kinder entscheiden möglichst selbst, wann sie gewickelt werden oder schlafen wollen. Auch die Impulskontrolle bei auftretenden Streitigkeiten der Kinder z.B. um eine Schaufel funktioniere besser, wenn das Kind durch Fragen und eigenes Nachdenken sein Verhalten reflektiert und dann anders entscheidet, als wenn das gewünschte Verhalten lediglich als Norm diktiert wird.

Lernprozesse

An zwei Stellen gab es Verwunderung bei den Gästen aus der HV, deren Bild vom Christentum auch etwas Realitätskorrekturen aufnehmen konnte: Martin Fritz von der EZW hatte erkennbar Mühe, begreiflich zu machen, dass Christen mit ihren heiligen Schriften trotz deren normativen Charakters auch einen selektiv-reflexiven Umgang pflegen, weil diese eingeordnet und interpretiert werden müssen. Seine Verweigerung einer stumpfen dogmatischen Verengung brachte ihm das erstaunte Urteil ein: „Ich glaube, Sie sind gar kein Christ“. Die andere Korrektur betraf das Bild vom schulischen Religionsunterricht. Herr Bauer forderte, dass dies kein rein biblischer Unterricht sein solle, sondern über alle Religionen respektvoll und sachlich informieren, nicht in Hinterzimmern sondern an öffentlichen Schulen nach ordentlichen Lehrplänen. Dazu beteuerten mehrere der (zahlreich) anwesenden Religionslehrkräfte, dass genau dies faktisch in ihrem Religionsunterricht passiert.

Gott wurde Mensch

Insgesamt zeigt sich in der Veranstaltung ein merkwürdiges Fazit. Zu den allermeisten Ausführungen der Vertreter der HV gab es in der Sache breite Zustimmung im Raum. Das ist insofern auch nicht verwunderlich, weil dies Elemente und Überzeugungen grundlegender Menschlichkeit betraf, die von Kirchentagsteilnehmenden meist geteilt werden. Das hat sogar unmittelbar theologische Gründe. Kernaussage des Christentums ist, dass in Jesus von Nazareth Gott selbst Mensch wurde. Darum kann einem engagierten Christentum das Leben der Mitmenschen nicht egal sein. Der Kirchentag und seine Veranstaltungen sind voll davon, diese unmittelbar aus dem Glauben kommende humanistisch-soziale Verantwortung in allen Richtungen durchzubuchstabieren. Ein wirkliches Gegenüber zum Humanismus gibt ein solches Christentum nicht ab, weil der Humanismus – also dass menschlich mit Menschen umgegangen werden soll – selbst elementarer Bestandteil seiner Glaubensüberzeugungen ist. Zu einem fundamentalistisch verengten Christentum, das wesentliche humane Werte einer verqueren Dogmatik unterordnet, hätte es einen Gegensatz gegeben. Solches ist auf dem Kirchentag aber allenfalls in einzelnen Ständen auf dem Markt der Möglichkeiten zu finden und eher nicht im thematischen Programm und noch weniger bei den Teilnehmenden. Möglicherweise erklärt eine historische Begebenheit aus der Gründungsgeschichte der HV, von der Michael Bauer berichtete die Atmosphäre im Raum am besten:

Damals, im Jahr 1848, waren die Gründer im wesentlichen rationale Theologen und angesehene Bürger der Stadt Nürnberg, Doktoren, Pfarrer und andere Honorationen. Diese waren entsetzt über den irrationalen katholischen Reliquienkult, der sich u.a. in der Ausstellung des heiligen Rockes 1844 in Trier formierte. Auf evangelischer Seite befanden sie sich in Nürnberg im Konflikt mit dem einflussreichen stark konservativen Vertreter des Neoluthertums Wilhelm Löhe (1808-1872). So gab es Diskussionen ob man sich a) den Deutschkatholiken anschließen solle oder b) eine eigene Bewegung gründen oder c) in der Kirche bleiben solle, um sie von innen zu verändern. Die Gruppe war gespalten. Am Ende war es nur ein kleinerer Teil, der mit der „Freien christlichen Gemeinde Nürnberg“ den Neuanfang wagte. Bei dieser Kirchentagsveranstaltung konnte man das Gefühl bekommen: Deren Nachfahren waren auf der Bühne. Im Publikum saß möglicherweise Nachkommenschaft derjenigen, die damals drin geblieben waren und die seitdem auf vielen Ebenen erfolgreich daran beteiligt sind, dass die evangelische Theologie und Kirche heute sich in vielen Punkten von dem Stand des 19. Jahrhunderts wohltuend unterscheidet, aber dennoch die tragende Substanz des Glaubens bewahrt hat.

Dr. Harald Lamprecht

ist Beauftragter für Weltanschauungs- und Sektenfragen der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens und Geschäftsführer des Evangelischen Bundes Sachsen.

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Dieser Beitrag ist erschienen in Confessio 2/2023 ab Seite 08