Geistlichen Missbrauch erkennen und vermeiden

Empfehlungen zur Gemeindeorganisation

Am 23. 11. 2007 fand in Chemnitz eine Fortsetzung des Studientages zum Thema „Geistlicher Missbrauch“ statt. Kernpunkte aus dem Einführungsreferat sind nachfolgend dokumentiert.

Geistlicher Missbrauch ist der Missbrauch einer geistlich leitenden Stellung für Kontrolle und Dominanz zum Ausbau der eigenen Machtposition. Er ist ein schlimmer Feind des Christentums, denn er zerstört Gemeinschaft. Dabei spielt das Systems durchaus eine Rolle. Ein guter Mensch in einem schlechten System wird seine Macht nicht missbrauchen. Ein schlechter Mensch kann in einem guten System nicht viel Schaden bereiten, weil seine Macht begrenzt ist und Missbrauch entdeckt wird. In einem schlechten System der Gemeindeorganisation kann hingegen ein weniger verantwortungsvoller Mensch kaum gebremst werden. Darum ist es wichtig, auch auf strukturelle Fragen zu achten. Woran lässt sich Missbrauch erkennen und wodurch kann er vermieden werden? Dies soll im Blick auf die drei Problemfelder Autoritätsmissbrauch, Exklusivität und Leistungsfrömmigkeit bedacht werden.

Macht und Autorität

Im Idealfall kommt Autorität „von innen“ durch Kompetenz. Oft genügt dies aber nicht, darum ist sie meist durch Amt und Struktur abgestützt. Wenn aber die Balance zwischen „natürlicher“ und „äußerer“ Autorität zu sehr verschoben ist und vorwiegend auf äußerer Abstützung beruht, sind Konflikte vorgezeichnet. Zum Problem kann es werden, wenn eine Verantwortungsperson in der Gemeinde in besonderer Weise ihre Stellung mit Verweis auf unmittelbare göttliche Beauftragung absichern möchte - sei es generell durch Verweis auf eine Berufungsvision oder situativ immer wieder neu durch jeweilige Eingebungen. Das Problem einer Überbetonung des Übernatürlichen besteht im Verschwinden des Menschlichen. Wenn aber über menschliche Vorstellungen und Wünsche nicht gesprochen wird, sind diese nicht verschwunden, sondern kommen durch die Hintertür noch heftiger wieder hinein. Eine Testfrage kann folglich lauten: Spricht die Gemeindeleitung (noch) von persönlichen, eigenen Wünschen? Oder wird alles auf Gott projiziert und jedes eigene Vorhaben als göttlicher Auftrag ausgegeben?

Eine Theologie und Frömmigkeit, in der sich viel darum dreht, von göttlicher Kraft erfüllt zu sein und die zugleich sehr damit beschäftigt ist, Gottes Stimme zu hören, gibt demjenigen, der behaupten kann, Gott gehört zu haben, eine große Macht. Problematisch ist nicht die Macht an sich - die gibt es überall - sondern ein Mangel an theologischer Reflexion. Weil nicht über Macht gesprochen wird, gibt es keine Regelungen zu ihrer Kontrolle. Im Neuen Testament besteht die Kraft des Geistes aber nicht in erster Linie darin, Schwache stark zu machen, sondern Schwache in ihrer Schwachheit zum Heil zu benutzen.

Mitunter wollen auch die Gemeindeglieder eine starke Autorität über sich haben, besonders eine abstrakt göttlich abgesicherte Autorität, weil sie dies von eigenen Zweifeln, Prüfungen und Kontrollen enthebt.

Empfehlungen

Kanzeltausch ist eine gute Möglichkeit, einmal eine andere Stimme, eine andere Auslegung zu hören und kann durchaus die „natürliche“ Autorität des heimischen Predigers stärken, wenn die Gemeinde bemerkt, was sie an ihm hat.

Teamwork bedeutet, nicht alles allein machen zu müssen und auch Verantwortung abgeben zu können. Die Gemeindeleitung ist im Idealfall nicht selbst Leithammel in allen Dingen, sondern fördert die kreativen Potenziale in der Gemeinde, besorgt den Informationsfluss zwischen den verschiedenen Akteuren und fungiert als Amt der Einheit, um die verschiedenen und gelegentlich divergierenden Richtungen zusammenzuhalten und immer wieder neu aufeinander zu beziehen.

Kritik ist ein Segen, denn nur sie kann zu Verbesserungen führen. Menschen sind nie perfekt und Fehler zum Verbessern da. Auch wenn man natürlich nicht alles allen recht machen kann, bleibt die Grundeinsicht richtig, dass die Kirche stets reformiert werden muss. Es ist also z.B. sinnvoll, im Gemeindehaus einen „Meckerbriefkasten“ aufzuhängen, wo ggf. auch anonym Kritik, Hinweise und Vorschläge abgegeben werden können.

Demokratische Strukturen können helfen, Machtmissbrauch zu erschweren. Die Machtfrage darf nicht wie üblich ausgeblendet werden, als gäbe es sie nicht, weil wir in der Kirche ja alle Brüder und Schwestern sind. Besser ist es, über die tatsächlichen Verhältnisse zu reflektieren, deren Sinn zu verstehen und Kontrollmechanismen zur Begrenzung von Macht vorzusehen. Viele freie Gemeinden sind faktisch als Oligarchie organisiert: Ein einmal bestehender Leitungskreis ergänzt sich durch Berufung von Innen. Wenn dort einmal eine dominante Persönlichkeit das Sagen gewinnt, ist es kaum möglich, daran etwas zu ändern, ohne die Gemeinde zu spalten.

Meinungsvielfalt als positiv zu begreifen, muss eingeübt werden. Normalerweise haben Menschen ein starkes Harmoniebedürfnis, wünschen sich, dass alle einer (=meiner) Meinung sind, dann gibt es wenig Reibung und wenig Konflikte. Dies entspricht aber in der Regel nicht der Wirklichkeit, folglich ist solche Harmonie nur mit äußerem Druck zu halten. Das Aushalten und Schätzen fremder Meinungen, so dass deren Horizonterweiterung als Gewinn erfahren werden kann, muss daher geübt werden, denn es kommt nicht von allein.

Exklusivität und Isolation

Eine Autorität missbrauchende Struktur lässt sich leichter entwickeln und länger festhalten, wenn die Opfer keine Alternative haben. In dem Maß, wie die eigene Gruppe als exklusiv bezeichnet und als etwas ganz besonderes herausgestellt wird, verringern sich die Möglichkeiten des Vergleichs. Zudem steigt das mögliche Engagement für diese besondere Sache und der angedrohte Verlust dieser Gemeinschaft kann als Druckmittel eingesetzt werden.

Dies spricht nicht gegen Profilgemeinden oder Leitbildprozesse, in denen sich Gemeinden überlegen, was ihre besonderen Stärken sind, solange diese in den kirchlichen Gesamtorganismus im Sinn einer Aufgabenteilung eingebunden bleiben und sich so verstehen. Dazu gehört, dass Richtungsgemeinden sich ihres defizitären Charakters bewusst bleiben.

Kontrollfragen für diese Gefahren können sein: Werden andere Gruppen abgewertet? Entsteht die eigene Identität durch eine Negativfolie der anderen? Was erwarte ich von Menschen/Gruppen außerhalb der eigenen Gemeinschaft? Bieten sie nur Verführung zum Abfall oder potenzielle Missionsobjekte, oder kann ich mich von ihnen auch bereichern lassen?

Exklusivität durchbrechen

Wo ökumenische Kontakte selbstverständlicher Bestandteil der Gemeindearbeit sind, hilft dies, sich nicht selbst zu vergöttern und dennoch sich des eigenen Profils bewusst zu bleiben. Die Charta Oecumenica bietet Anregungen, die bei weitem noch nicht ausgeschöpft sind. Generell sind Außenkontakte wertvoll. Freundschaftliche Beziehungen zu Menschen, die nicht zur eigenen Gruppe gehören, sind in zwei Richtungen wichtig: Sie bringen neue Impulse und Sichtweisen ein und können Ansprechpartner sein, wenn es interne Krisen gibt.

Vorteilhaft ist eine Struktur mit weichen Außengrenzen , die nicht durch starke Ränder, sondern durch eine lebendige Mitte zusammengehalten wird.

Leistungsfrömmigkeit vermeiden

Religiöse Überforderung kann sich einstellen, wenn das Menschsein keinen ausreichenden Platz mehr in der Theologie und Praxis einer Gemeinschaft hat. Zwar kann christliche Theologie nicht auf die Rede von der Sünde verzichten. Doch gilt es, das richtige Maß zu wahren. Es gibt Extremgruppen, die das halbe Leben zur Sünde erklären. Demgegenüber ist festzuhalten: Gemeindeleben darf Spaß machen!

Wichtig ist ebenso, dass es abgestufte Formen des religiösen Engagements geben sollte. Nicht jeder ist zum Missionar geboren. Auch gibt es in einer Lebensgeschichte verschiedene Phasen. Ist es möglich, das eigene Engagement in der Gemeinde zeitweise zu reduzieren, ohne dass dies gleich als Abfall vom Glauben gedeutet wird? Wenn begrenztes Engagement leicht ist, steigt auch die Bereitschaft zu stärkerer Beteiligung.

Prüfstein für die innere Haltung in der Frage des religiösen Engagements kann der Umgang mit den sogenannten „Weihnachtschristen“ sein. Können wir uns ehrlich über diejenigen freuen, die zum dritten mal in Folge in die Christvesper kommen? Sie könnten auch wegbleiben. Wer an dieser Stelle hochmütig wird und unterschwellig signalisiert: „Ihr gehört hier nicht her, weil ihr nicht öfter kommt“ hat etwas Grundlegendes nicht begriffen: Christlicher Glaube ist seinem Wesen nach einladender Glaube, nicht fordernder Glaube.

Dr. Harald Lamprecht

ist Beauftragter für Weltanschauungs- und Sektenfragen der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens und Geschäftsführer des Evangelischen Bundes Sachsen.

Artikel-URL: https://www.confessio.de/artikel/165

Dieser Beitrag ist erschienen in Confessio 6/2007 ab Seite 11