Gotteswort und Menschenwort

5. Begegnungstagung mit Leitern freier Gemeinden zum Umgang mit der Heiligen Schrift (2008)

 

Übersicht

 

BibeltextAlle Christen berufen sich auf die Bibel. Aber was sie darin finden und welche Konsequenzen sie daraus ziehen, ist durchaus unterschiedlich. Die Beschäftigung mit der Bibel und der jeweiligen Herangehensweise, um sich ihrer Wahrheit zu nähern, ist darum ein wichtiger und grundlegender Schritt im ökumenischen Gespräch. Das gilt auch für das Verhältnis zwischen Ev.-Luth. Landeskirche und freien Gemeinden in Sachsen. Dass die Bibel unsere gemeinsame Grundlage darstellt, ist unbestritten. Dennoch gibt es in einer Reihe von theologischen und organisatorischen Fragen nicht nur Unterschiede, sondern auch Widersprüche. Die 5. Begegnungstagung zwischen Pfarrern der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens und Leitern freier charismatischer Gemeinden untersuchte darum unter dem Thema „Gotteswort und Menschenwort“ den Umgang mit der Heiligen Schrift. Zu diskutieren gab es dabei viel, denn zum Ersten brachten alle Teilnehmer selbst formulierte thesenartige Antworten auf 7 Fragen mit (siehe Kasten), zum Zweiten gaben die Referenten Prof. Dr. Helge Stadelmann (Baptist, FTH Gießen) und Prof. Dr. Matthias Petzoldt (lutherisch, Universität Leipzig) weitere Gesprächsimpulse, und zum Dritten sorgten ausgewählte Bibeltexte für Konkretion in den Diskussionen. Die folgenden Ausführungen sammeln die wichtigsten der in den Diskussionen genannten Argumente ohne Rücksicht darauf, wer sie im konkreten Fall geäußert hat, um ein eigenständiges Nachdenken über die Thematik zu befördern.

2x100%

In Bezug auf das Verhältnis zwischen Gotteswort und Menschenwort in der Bibel konnte relativ schnell ein weitreichender Konsens mit der mathematisch paradox erscheinenden 2x100%-Aussage erzielt werden. Die Bibel ist 100% Menschenwort, weil sie ausschließlich von Menschen geschrieben wurde, doch zugleich darin 100% Gotteswort, weil in ihr Gott selbst zu uns spricht. Das Verhältnis wird dabei in Analogie zur göttlichen und menschlichen Natur Christi gesehen, die ebenso unvermischt und ungetrennt miteinander existieren. So wie Jesus ganz Mensch war, ist auch die Bibel ganz Menschenwort. So wie er zugleich ganz Gott ist, ist die Bibel auch ganz Gotteswort. Gott hat die Autoren der biblischen Texte in ihrer ganzen Persönlichkeit akzeptiert, er möchte seine Dinge mit uns Menschen gemeinsam tun.

Weil die biblischen Texte Menschenwort sind, stehen sie in einem bestimmten zeitlichen und kulturellen Kontext. Ihr richtiges Verständnis muss darum diesen Kulturtransfer berücksichtigen. Zum Beispiel war Jesus als Wanderprediger, der Jünger um sich scharte, damals eine vergleichsweise normale Erscheinung, wie die Berichte von anderen Wanderpredigern belegen. Wer hingegen heute in gleicher Weise als Wanderprediger auftreten würde, könnte sich dabei nicht zu Recht auf Jesus berufen, weil solches Auftreten heute als unpassend angesehen werden würde. Es kommt folglich darauf an, biblische Prinzipien zu erkennen und diese in die Gegenwart zu übertragen.

Verschiedene Akzentuierungen gab es gleichwohl, die sich z.T. in der Wortwahl zeigten („zuverlässige glaubwürdige autoritative Offenbarung“ oder „biblische Texte, die sich als hilfreich erweisen“, Gott als „Autor“ der Bibel durch Inspiration in menschliche Vermittler, oder Menschen, die ihre Erfahrungen mit Gott für die nachfolgenden Generationen festhalten).

Was bedeutet „bibeltreu“?

Bibeltreue wurde einerseits als Bekenntnis zur Irrtumslosigkeit der Schrift verstanden, nach der man der Intention des Schreibers zu vertrauen und zu gehorchen habe. Der Selbstanspruch der Bibel soll ernst genommen werden, indem sie so gelesen wird, wie sie selbst gelesen werden möchte. Darum muss man dem Verständnis der Bibel von sich selbst nachgehen. Allerdings darf die persönliche Auffassung zu einer theologischen Frage nicht schlicht mit Bibeltreue gleich gesetzt werden. Bibeltreue ist nicht einfach identisch mit formaler Rechtgläubigkeit, von der es sehr „ätzende Formen“ geben kann. Bibeltreue zeigt sich statt dessen in einer Haltung zur Bibel, in der man zulässt, von ihr kritisiert und zur Buße gerufen zu werden. Es sind also nicht allein die Worte, sondern Geist und Logik dahinter zu beurteilen: Wie verändert dies Menschen? Werden sie dem biblischen Vorbild ähnlicher, oder zeigen sich Selbstsucht und Streit?

In anderer Weise bedeutet Bibeltreue die Frage nach der korrekten Auslegung des Textes. Diese muss dem Gesamtzeugnis der Schrift entsprechen. Es geht darum, die Frohe Botschaft nicht durch eigene Meinung zu verändern. Jesus selbst ist ein Beweis dafür, dass der angemessene Umgang mit der Schrift nicht das sklavische Kleben am Buchstaben ist: Jesus nahm sich die Freiheit heraus, hinter den Text nach dem von Gott gemeinten Sinn zu fragen. Die Pharisäer hatten zwar den Text des Mose auf ihrer Seite, aber darüber doch das Anliegen Gottes aus dem Blick verloren. Bibeltreue hat folglich etwas damit zu tun, nach dieser Mitte der Schrift zu suchen.

Der Begriff „bibeltreu“ kann auch als überzogener Anspruch und Kampfansage empfunden werden, insbesondere wenn dies mit spezifischen parteipolitischen Konzepten verbunden wird, enthält er doch unterschwellig den Vorwurf, wer nicht genau so denkt sei nicht „bibeltreu“. Auch wenn man solche Engführungen ablehnt, muss man feststellen, dass es Auslegungen gibt, die eben nicht „bibeltreu“ sind, weil sie dem Geist der Bibel widersprechen. Die Auslegungen der Deutschen Christen im Dritten Reich standen im Widerspruch zum Gesamtzeugnis der Schrift. Es gibt auch klare Grenzen, wie z.B. die Leugnung der Auferstehung, die nicht mit einer schriftgemäßen Auslegung in Übereinstimmung zu bringen sind.

Umgang mit Widersprüchen

Ein Konsens in allgemeinen Prinzipien ist leicht. Wie weit er trägt, zeigt sich erst im Konkreten. Im Blick auf Widersprüche innerhalb der Bibel und dem Umgang mit ihnen (Frage 4 und 5) zeigten sich dann doch deutliche Differenzen.

Die Bibel wurde mit ihren Widersprüchen als Sammlung von Glaubenszeugnissen kanonisiert. Die in ihr vernehmbaren verschiedenen Stimmen machen sie wertvoller und interessanter. Schon Pilatus fragte „Was ist Wahrheit?“ Biblische Texte können sich als wahrhaftig erweisen, wenn ich mich darauf einlasse. Es ist kein gutes Werk, Widersprüche glattzubügeln und den Verstand beiseite zu legen. Die Bibel ist insofern „wahr“, weil jedes Wort auf ehrlich wiedergegebenen Erfahrungen beruht. Darum muss nicht alles aus heutiger naturwissenschaftlicher Sicht „richtig“ sein. „Wahr“ ist im hebräischen ein personaler Begriff, der von formalen Richtigkeiten unterschieden werden muss. Zwar gibt es in der Bibel formale Unrichtigkeiten in der Angabe bestimmter Zahlen oder Orte, aber das Grundvertrauen ist davon nicht abhängig. Historische und geografische Sachfragen sind nicht alle „wahr“. Wahr ist das Evangelium von Christus. Manche Widersprüche in der Bibel sind dialektisch, andere komplementär, wieder andere evolutiv zu verstehen. In der Frage der Gewalt ist bereits im Alten Testament eine Entwicklung angelegt: Bei der Revolution des Jehu wird Gewalt positiv gewertet, doch bereits der Prophet Hosea widerspricht dem ausdrücklich. Darum ist nicht klar, worüber man im Blick auf die Bibel mehr staunen kann: über die Vielfalt der Zeugen, die innerbiblisch zugelassen werden, oder über die Einheit, die sie trotz ihrer Vielfalt und teilweisen Widersprüchlichkeit dennoch vermitteln. Praktikable Kriterien im praktischen Umgang mit Widersprüchen unterscheiden Sachfragen von Glaubensfragen: In geografischen und historischen Sachfragen ist die Wahrscheinlichkeit wesentlich, die mit wissenschaftlicher Akribie zu ermitteln ist. Bei Glaubensfragen ist hingegen von der theologischen Mitte der Schrift aus zu urteilen.

Es gibt keine Widersprüche

Eine im Ansatz entgegengesetzte Position wurde ebenfalls mehrfach formuliert: „Es gibt keine Widersprüche in der Bibel. Es gibt Dinge, die ich nicht verstehe.“ Gott hat absichtlich Stolperfallen eingebaut, um Herzenshaltungen offenbar zu machen: Unterordnung oder Widerspruch? Es soll möglich sein, einfachen Menschen eine Bibel geben und dazu ohne Einschränkungen sagen zu können: „Das ist Gottes Wort.“ Jedes Wort der Bibel ist wahr, denn was wäre, wenn es nicht so wäre? Dann müsste jeder selbst entscheiden, was wahr ist, und was nicht. Dafür haben wir von Gott nicht das Mandat. Dennoch ist in der Auslegung aber nicht alles wörtlich zu nehmen, sondern es sind die literarischen Gattungen zu beachten. Im Übrigen muss nicht alles ein Widerspruch sein, was als solcher erscheint, denn es könnte durchaus sinnreiche Erklärungen geben, die lediglich nicht bekannt sind. Mehreren Äußerungen ging es besonders um die Zuverlässigkeit der Bibel: Dass Gott für die Niederschrift der Bibel Menschen mit ihren charakteristischen Persönlichkeiten und literarischen Stilen benutzt hat, führte nicht dazu, dass die Fehlerhaftigkeit der Menschen so in die Schrift eingeflossen ist, dass sie unzuverlässig geworden wäre. Der autografische Text in seiner Gesamtheit und allen seinen Teilen ist verlässlich und fehlerlos, denn der Schrift vertrauen heißt Gott vertrauen und der Bibel ungehorsam sein heißt Gott ungehorsam sein. Wo man der Schrift nicht mehr voll und ganz vertrauen kann, geht das Schiff unter, dort droht völliger Agnostizismus, lautete die geäußerte Befürchtung. Dass die Bibel dennoch Widersprüche zu haben scheint, liege demnach an der menschlichen Fehlerhaftigkeit der Leser und eigenem Unverständnis.

Historisch-kritische Methode

In Bezug auf die Einschätzung der historisch-kritischen Methode zeigten sich unter den Teilnehmern auch größere Differenzen, wobei im Gespräch platte Feindbilder durch eine differenziertere Wahrnehmung ersetzt werden konnten. Vorbehalte gegenüber historisch-kritischem Umgang mit biblischen Texten resultierten einerseits aus grundsätzlichen Bedenken, sich mit dem eigenen Verstand über den göttlich inspirierten Text zu setzen. Wenn die Identität von Gotteswort und Bibelwort aufgelöst werde, so werde immer etwas Neues als Kriterium und Maßstab eingeführt, was aber der Bibel fremd ist – seien es die Weltbilder des 19. Jahrhunderts oder andere. Wenn Jesus von der Wahrheit der Bibel getrennt würde, dann wäre es ein beliebiger Jesus, irgendeiner, aber nicht der biblisch bezeugte. Die Trennung von Jesus als dem lebendigen Wort von dem geschriebenen Wort würde eine Beliebigkeit einführen, welche enorme Konsequenzen bis in die Dogmatik hätte. Wenn die Tür der Unterscheidung zwischen Gotteswort und Menschenwort in der Bibel einmal geöffnet würde, dann wäre das die Öffnung für völlige Beliebigkeit - so eine mehrfach geäußerte Befürchtung.

Weiterhin speisten sich die Bedenken aus erfahrenen Folgen mit der Konfrontation historisch-kritischer Methoden. Verunsicherte und überforderte Religionslehrer, welche keine Glaubensverkündigung zustande bringen, Hochschullehrer ohne Ehrfurcht vor dem Text und Warnungen vor Glaubensverlust aus der Heimatgemeinde hatten die Teilnehmer erlebt.

Demgegenüber bleibt festzuhalten, dass ein Missbrauch einer Sache den regulären Gebrauch nicht aufhebt. Trotz mancher Irrwege und Übertreibungen bleibt die historisch-kritische Methode ein wertvolles Werkzeug zum vertieften Verständnis des biblischen Textes. Es kommt eben immer darauf an, wer es wozu einsetzt. Die Methode heißt „kritisch“, weil es um kritisch kontrolliertes Nachdenken geht, welches eigene Irrtümer, falsche Denkvoraussetzungen und unreflektierte Voraussetzungen entlarven soll. Solches kritische Prüfen ist Aufgabe einer jeden ernsthaften Wissenschaft. Dies ist kein fehlender Respekt vor Gott, sondern es ist das Menschenwort, welches mit den entsprechenden Methoden untersucht und eingeordnet wird. In der Bibel werden nicht einfach Informationen als übernatürliche Informationen weiter gegeben, sondern Offenbarung ist ein personales Geschehen: In Joh. 1 begegnet Jesus den ersten Jüngern, woraufhin Philippus Nathanael mit den Worten „komm und sieh“ einlädt. Eine solche Begegnung ist keine Instruktion von Lehrsätzen. Sie wird weitererzählt, um wieder Glauben zu wecken.

So gibt es auch die anderen Erfahrungen von denjenigen, denen die historisch-kritisch gewonnenen Einsichten den Glauben aufgeschlossen und erst ermöglicht haben, die sonst - so wie seinerzeit Friedrich Engels - durch ihre ungelösten Fragen am Glauben verzweifelt wären.

Fazit

Als ein Ergebnis lässt sich festhalten, dass die Interpretationsbedürftigkeit aller Texte und damit auch der biblischen Aussagen von allen Anwesenden anerkannt wurde. Auf der einen Seite führte der Wunsch nach dem Erhalt der Autorität der biblischen Texte zu der Sorge, dass sich subjektive eigene Maßstäbe in die Beurteilung der Bibel einschleichen könnten, auf der anderen Seite wurde dafür geworben, aus der Unterscheidung (nicht Trennung!) von Christus als Grund des Heils und seiner Vermittlung im Wort der Bibel die Freiheit zu einer Auslegung zu gewinnen, welche den eigentlichen Intentionen des Textes entspricht. Einigkeit bestand in der Abwehr eines dumpfen Biblizismus, der die Mühen verantwortlicher Auslegung scheut und unreflektiert seine Vorurteile in den Text hineindeutet, indem er sie aus Buchstaben und Teilsätzen herausklaubt.

Das gemeinsame Gespräch über Jesaja 53 und Epheser 5 zeigte zwar die verschiedenen Akzentsetzungen, aber keine unüberbrückbaren Kontroversen in der Auslegung der Texte. Interessant und wichtig zu beobachten war, dass die Frontlinien in den Diskussionen nicht zwangsweise entlang der Konfessionslinie liefen. Es gibt auch im Bereich der Ev.-Luth. Landeskirche mancherorts ein sehr enges, um nicht zu sagen fundamentalistisches Schriftverständnis. Andererseits war auch bei einigen Vertretern der freien Gemeinden ein offenerer Umgang mit der Bibel zu erleben, der ihre Vielschichtigkeit wahr und ernst nimmt und sich um eine verantwortungsvolle Interpretation der biblischen Texte für die heutigen Hörer und Leser bemüht.

Was wir voneinander lernen können

Die Begegnung und das Gespräch mit den Teilnehmern aus den freien Gemeinden lässt wieder neu bewusst werden, dass die Liebe zu Gott sich auch im Ernstnehmen der biblischen Überlieferung ausdrückt. Schwierige Stellen können nicht wegexegetisiert werden, indem man sie einem Redaktor zuschiebt, denn Bibel- und damit auch Predigttext ist die kanonische Endgestalt.

Für die Teilnehmer aus den freien Gemeinden wünsche ich mir, dass Ihnen die Gespräche etwas davon zeigen konnten, dass historisch-kritischer Umgang mit der Bibel durchaus respektvoll sein kann und dass die Akzeptanz der menschlichen Vermittlung des Wortes Gottes einschließlich ihrer Begrenzungen und zeitbedingten Fehlerhaftigkeit keinen Dammbruch bedeutet, der den Glauben hinwegspült. Im Gegenteil: diese Erkenntnis kann viele sonst in Scheingefechten gebundenen Kräfte freisetzen und auf das Zentrum des Glaubens lenken. Die Weihnachtsbotschaft von der Menschwerdung Gottes in Christus steckt auch in der Entstehungsgeschichte der Bibel. Gott kommt zu uns in Gestalt eines hilflosen Menschens in einer schlichten Krippe. Sein Wort, das den Bericht von diesem Geschehen enthält, kommt vermittelt in dem unvollkommenen Menschenwort der Schrift. Aber gerade darin will sich Gott selbst finden lassen.

Harald Lamprecht


7 Fragen

Die nachfolgenden sieben Fragen sollte jeder Tagungsteilnehmer zur Vorbereitung auf die Tagung und als Grundstock für die Diskussionen beantworten:

  1. In welcher Weise ist die Bibel „Gottes Wort“?
  2. In welcher Weise ist die Bibel „Menschenwort“?
  3. Was bedeutet „bibeltreu“?
  4. Wie gehe ich mit Widersprüchen in der Bibel um?
  5. Ist jedes Wort der Bibel wahr? Warum?/Warum nicht?
  6. Was bedeutet für mich „historisch-kritische Exegese“?
  7. Wie ist das Verhältnis von Geist und Buchstaben in der Heiligen Schrift?

  


Gottes Offenbarung in der Postmoderne

Prof. Dr. Helge Stadelmann über Evangelikales Schriftverständnis

Wissenschaft ist der ernsthafte und planmäßige Versuch zur Ermittlung von Wahrheit auf den verschiedenen Wissenschaftsfeldern. Mit dieser Definition des Bundesverfassungsgerichtes im Hochschulurteil von 1979 begann Prof. Stadelmann von der Freien Theologischen Hochschule Gießen seine Ausführungen auf der 5. Begegnungstagung und nahm dabei solches ernsthaftes Interesse an der Wahrheit für sich und seine Hochschule in Anspruch. Zu wissenschaftlicher Arbeitsweise gehört, die Arbeit anderer Forscher zur Kenntnis zu nehmen. Während evangelikale Studierende selbstverständlich auch Literatur aus der nicht evangelikalen Forschung lesen, wünschte sich Prof. Stadelmann, dass auch die Werke evangelikaler Theologen außerhalb des eigenen Lagers stärker zur Kenntnis genommen würden.

Die Suche nach der biblischen Wahrheit sieht er heute in zwei Megatrends eingebettet:

Vom Faktischen zum Fiktiven

Der Trend vom Faktischen zum Fiktiven in der Theologie setzte ein mechanistisches Weltbild, das Wunder per Definition nicht zuließ, über die Bibel. Programmatisch dafür stehen immer noch Rudolf Bultmanns Aussagen in seinen Schriften „Kerygma und Mythos“ und in der „Geschichte der synoptischen Tradition“. Dabei sind die exegetischen Methoden an sich nicht der Kern des Problems, sondern die aus weltbildhaften Vorentscheidungen getroffenen Abwertungen biblischer Inhalte.

Vom Autor zum Leser

Der zweite Megatrend ist in der Postmoderne der Wechsel der Sinngebungshoheit vom Autor zum Leser bzw. Hörer. In der Reformation galt der Literalsinn noch unbestritten als erster und wichtigster Sinn eines Textes. Dies war später bei den Pietisten ebenso und bildete bis in die 80er Jahre einen Grundkonsens zwischen Evangelikaler und Universitätstheologie. Dieser Konsens sei verloren gegangen, beklagte Stadelmann. Die Forschungen der modernen Rezeptionsästhetik berücksichtigen stärker den Anteil des Lesers bzw. Hörers am Prozess des Verstehens. Im Extremfall ist das Verstehen und Interpretieren von Texten dann wie ein Picknick: Der Autor bringt die Wörter mit, der Leser den Sinn (Northrop Frye). Der Autor hat die Sinngebungshoheit verloren, er kann nicht mehr vorgeben, was er meint, sondern der Leser redet immer schon mit. Konsequent postmoderne Autoren wollen dann gar keinen Sinn mehr kommunizieren („Ich habe nichts zu sagen, und das sage ich auch.“) Mit solch einer Einstellung werde das Bibellesen problematisch, meinte Stadelmann. Wenn der Literalsinn der subjektiven Beliebigkeit hunderter Interpreten ausgesetzt ist, dann herrscht im Blick auf das Bibelverständnis intellektuelle Anarchie.

Selbstanspruch als Offenbarung

Der Selbstanspruch der Heiligen Schrift ist aber, dass es sich nicht um menschliche Texte, sondern um Gottes Offenbarung handele. Es gehöre zur wissenschaftlichen Gründlichkeit, das Selbstzeugnis und den Selbstanspruch der Bibel wahrzunehmen: Mose wird als Offenbarungsempfänger beschrieben, ebenso wie die Propheten den „Spruch des Herrn“ verkünden, und auch der Hebräerbrief betrachtet die Schrift als von Gottes Geist gegeben. Das von Gottes Geist gegebene Wort kommt in Gestalt menschlicher Worte und menschlicher Sprache. Darum müssen Kontext und Wortgebrauch in ihrer sprachlichen Kreatürlichkeit erforscht werden. Hier gibt es viel Ansatz für forschende Arbeit, die auf evangelikaler Seite manchmal vernachlässigt wurde.

Zugleich partizipiert diese Schrift an der Wahrheit und Autorität Gottes. Wer sich an der Schrift vergreift, macht sich an Gott schuldig. Die Vernunft kann sich nicht über Gott erheben - sonst wäre es Götzendienst. Stadelmann verwies auf eine Dissertation von Armin Buchholz über Luthers Schriftverständnis („Schrift Gottes im Lehrstreit“), der diese beiden Aspekte gut herausgearbeitet habe.

Konzil und Bekenntnisgrundlage

Zustimmend zitierte Stadelmann zunächst aus Abschnitt 11 der Konstitution „Deo Verbi“ des Zweiten Vatikanischen Konzils über die Heilige Schrift die katholischen Aussagen über die Inspiration, in denen auch evangelikalen Christen wichtige Begriffe auftauchen „Da also alles, was die inspirierten Verfasser oder Hagiographen aussagen, als vom Heiligen Geist ausgesagt zu gelten hat, ist von den Büchern der Schrift zu bekennen, dass sie sicher, getreu und ohne Irrtum die Wahrheit lehren, die Gott um unseres Heiles willen in heiligen Schriften aufgezeichnet haben wollte.“ Die Aussagen dieser Konstitution, welche die Auslegungshoheit des kirchlichen Lehramtes und die Rolle der Tradition benennen (z.B. Nr. 9), wurden nicht thematisiert.

Zum Abschluss seiner Ausführungen verwies Prof. Stadelmann auf die Bekenntnisgrundlage der FTH Gießen, welche neben dem Apostolicum, der Basis der Evangelischen Allianz und der Lausanner Verpflichtung einen eigenen Abschnitt zum Verhältnis von Gotteswort und Menschenwort enthält und in der es u.a. heißt:

„Da also das, was die inspirierten Verfasser aussagen, zugleich vom Heiligen Geist ausgesagt ist, ist von den Büchern der Heiligen Schrift in ihrer ursprünglichen sprachlichen Gestalt zu bekennen, dass sie zuverlässig und ohne Irrtum das wahre Wort Gottes, das verlässliche Zeugnis seiner Offenbarung und das zu unserer Erlösung gegebene Heilswort sind. … Zur Abfassung seines Wortes hat Gott Menschen erwählt, damit sie das, was er durch sie geschrieben haben wollte, als echte Verfasser – mit ihrer Sprache, ihren Fähigkeiten und angesichts konkreter geschichtlicher Hintergründe – niederschrieben. Die Heilige Schrift ist dem Glauben und dem forschenden Verstand in Gestalt sprachlich-geschichtlichen Menschenwortes gegeben. Um zu verstehen, was Gott sagen will, muss der Ausleger sorgfältig ermitteln, was die biblischen Schriftsteller jeweils wirklich haben sagen wollen. … Es ist unangemessen, die Schrift anhand von Maßstäben für Wahrheit und Irrtum zu messen, die ihrem historischen Ursprung und ihrem Zweck fremd sind. …In der Gestalt, in der Gott sein Wort gegeben hat, ist es dem Ausleger zur Wahrnehmung aufgegeben.“[3]


Die Engführung der Orthodoxie

Prof. Dr. Matthias Petzoldt über die Entwicklung des protestantischen Schriftverständnisses

Die Frontstellungen der Gegenreformation nötigten die Theologen der lutherischen Orthodoxie zur Formulierung einer strengen Verbalinspirationstheorie. Damit ist aber eine Engführung verbunden, welche der Weite des Wortes Gottes nicht gerecht wird. So lautet eine Kernaussage der Ausführungen von Prof. Dr. Matthias Petzoldt von der Theologischen Fakultät Leipzig auf der 5. Begegnungstagung in Meißen.

„Was Christum treibet“
(Luthers Schriftverständnis)

In der Zeit der vorreformatorischen Theologie galt die Bibel selbstverständlich als durch den Heiligen Geist inspiriert – ebenso wie die Schriften der Kirchenväter und die Entscheidungen des kirchlichen Lehramtes. Luthers Einsatz zielte auf eine Vorrangstellung der Schrift. Kirchenväter, Konzilien und Bischöfe sind Menschen und können irren. Darum muss sich die Kirche der Schrift unterstellen (sola scriptura). Dabei vertritt Luther aber kein formales Schriftprinzip, sondern stellt das Evangelium in den Mittelpunkt: Die Botschaft der bedingungslosen Gnadenzuwendung Gottes (sola gratia) steht im Zentrum. Dieses gepredigte Wort ist für Luther Gottes Wort, die lebendige Stimme des Evangeliums (viva vox evangelii). Von diesem Ausgangspunkt kann er auch einzelne Schriften kritisch betrachten, wie er in der Vorrede zum Jakobusbrief ausführt: „Was Christum nicht lehret, das ist nicht apostolisch, wenn‘s auch der Petrus oder Paulus lehret, wiederum, was Christum predigt, das ist apostolisch, wenn‘s gleich Judas, Hannas, Pilatus und Herodes täte.“ (WA 7 384,29)

Gegen das katholische Lehramt vertrat Luther die Auffassung, dass die Heilige Schrift ihr eigener Ausleger ist (sui ipsius interpres, WA 7, 98, 97), gegenüber den Schwärmern, die sich bei jeder Gelegenheit auf Eingebungen des Heiligen Geistes beriefen, legte Luther Wert auf das äußere Wort (verbum externum).

Verbalinspiration im Kausalitätsprinzip

Mit dem Augsburger Religionsfrieden 1555 begann die Zeit der konfessionellen Auseinandersetzungen, in denen die Konfessionen ihre Anliegen jeweils in Abgrenzung zum konfessionellen Gegenüber formulierten. Die röm.-kath. Kirche bekräftigte im Trienter Konzil die Rolle der kirchlichen Tradition und des Lehramtes als Autoritäten neben der Bibel. Dagegen formulierte die altprotestantische Dogmatik mit den damaligen wissenschaftlichen Methoden der Scholastik eine strenge Verbalinspirationslehre. Um die Notwendigkeit eines kirchlichen Lehramtes auszuschließen musste gezeigt werden, dass die Schrift gar nicht dunkel ist; und es musste das Maß der menschlichen Mitwirkung am Offenbarungsvorgang reduziert werden. Darum wurde gemäß dem scholastischen Kausalitätsprinzip Gott als die Hauptursache (causa principalis) der Schrift bezeichnet, während die menschlichen Verfasser lediglich werkzeugliche Ursachen (causa instrumentalis) waren. Die strenge Verbalinspirationstheorie konnte sogar auf die Satzzeichen und die (erst im frühen Mittelalter hinzugetretene) Vokalisation des hebräischen Textes ausgeweitet werden. Dahinter stand eine Logik, die menschliches und göttliches als einander widerstrebende Prinzipien betrachtet und folglich Sicherheit nur dort erblicken mag, wo menschliches ausgeschlossen wird. Die Irrtumsfreiheit wurde dann auch nicht nur für die theologischen, sondern auch für die historischen, geologischen u.a. Aussagen der Schrift in Anspruch genommen. Diese Argumentation ist im Laufe der Zeit immer mehr ausgewachsen und hat ein solches Eigengewicht bekommen, dass der Ausgangspunkt im kontroverstheologischen Gegenüber zur röm.-kath. Position verblasst ist.

Gott wurde Mensch, nicht Buch

Positiv zu sehen ist daran das Anliegen, dem Offenbarungswort seinen schöpferischen Vorrang zur Kirche zu bewahren und die kirchlichen Autoritäten unter das Wort Gottes zu rufen. Problematisch ist allerdings das dafür gewählte Modell der Verbalinspiration. Der Grundsatz, „Die Heilige Schrift ist das Wort Gottes“ verengt das Wort Gottes auf das schriftliche Wort. Es begann aber bereits mit der Predigt Jesu, und es muss auch wieder zur Predigt und Evangelisation werden. Die Heilige Schrift selbst hat Zeugnischarakter. Die Autoren legen in ihr Zeugnis von ihren Gottesbegegnungen ab. Gott ist Mensch geworden, nicht Buch geworden. Im Unterschied zum Islam ist das Christentum keine „Buchreligion“, sondern ein Christusglaube. Der Prolog des Johannesevangeliums sagt es deutlich: „Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns.“ (Joh 1,14). Das Neue Testament ist lediglich Zeuge dieser Offenbarung. Dieser mehrschichtigen Beziehung wird das flächige Schriftverständnis der altprotestantischen Orthodoxie nicht gerecht, das kaum noch wagt, wie Luther vom Inhalt her zu urteilen. Ein mögliches Motiv dafür liegt in dem starken Sicherheitsbedürfnis während der Wirren des 30jährigen Krieges: während ringsum alles zerbricht, behält man wenigstens hier Gottes Wort verfügbar. Im Ergebnis führt dies aber zu einer Vergötzung von Menschenworten. Solches geschieht, wenn göttliche Eigenschaften (wie die der Irrtumslosigkeit) Dingen in der Schöpfung zugesprochen werden, denn das sind Menschenworte nun einmal. Die Bibel wird dann fälschlich mit dem identifiziert, wovon sie Zeugnis ablegt. Die Bibel ist die Quelle des Glaubens, weil sie von Christus berichtet, der der Grund des Glaubens ist. Beide Instanzen sind zu unterscheiden. Wo Gott bzw. Christus wie in der altprotestantischen Dogmatik mit der Heiligen Schrift quasi gleichgesetzt werden, wird die Bibel zum papiernen Papst.

HL

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Dieser Beitrag ist erschienen in Confessio 6/2008 ab Seite 11