Von Christen in China lernen

Ökumenische Erfahrungen eines deutschen Auslandspfarrers in China

China ist groß. China ist weit. China ist oft rückständig. Aber in manchen Punkten ist China erstaunlich weit voran. Das betrifft nicht nur Wolkenkratzer, sondern im Einzelfall auch die Gestaltung ökumenischer Zusammenarbeit. Pfr. Gerold Heinke war seit 2001 EKD-Auslandspfarrer in Peking und Shanghai und danach Dozent für Reformationsgeschichte am theologischen Seminar in Peking. Nun ist er zurück in Sachsen. Der Evangelische Bund Sachsen hat sich mit ihm getroffen, um von seinen Erfahrungen zu hören – und die sind es wirklich wert, weitergegeben zu werden.

Evangelisch + katholisch = 1 Gemeinde

Im Prinzip hat schon die Würzburger Bischofssynode nach dem 2. Vatikanischen Konzil eine Umkehr der Normalität in der ökumenischen Zusammenarbeit der Konfessionen gefordert. Daraus ergibt sich die Verpflichtung, „überall da gemeinsam zu handeln, wo die Voraussetzungen dafür gegeben sind und nicht Gründe des Glaubens, der Verantwortung für das notwendige Eigenleben der Gemeinden, unumgänglicher menschlicher Rücksichtnahme oder größerer Zweckmäßigkeit dem entgegenstehen.“ (Pastorale Zusammenarbeit 5.1.1.). Mit fast den gleichen Worten hat auch die Charta Oecumenica dieses Grundanliegen wieder bekräftigt und die Selbstverpflichtung formuliert, „auf allen Ebenen des kirchlichen Lebens gemeinsam zu handeln, wo die Voraussetzungen dafür gegeben sind und nicht Gründe des Glaubens oder größere Zweckmäßigkeit dem entgegenstehen“ (Nr. 4). Sichtbare Anwendungen dieser Begründungsumkehr sind aber leider immer noch selten. Zu groß sind offenbar die gewachsenen historischen Hindernisse.

Was in Europa derzeit vorwiegend auf der Ebene von Absichtserklärungen geblieben ist, wurde im Reich der Mitte Realität: eine gemeinsame evangelisch-katholische Gemeinde in Shanghai. Die kleine deutsche Gemeinde in Shanghai war ursprünglich eine Filialgemeinde von Peking, von wo aus der Pfarrer aller zwei Monate eingeflogen kam. Ab 2001 wurde der Kontakt intensiviert – und dies von Anfang an ökumenisch. Evangelischer und katholische Pfarrer vereinbarten, in dieser Situation keine Konkurrenzveranstaltungen zu wollen, sondern alle 14 Tage einen deutschen Gottesdienst stattfinden zu lassen: abwechselnd evangelisch und katholisch. Im Gemeinderat lebten mehrere Mitglieder in konfessionsverbindenden Ehen. Entsprechend stark war der Wunsch, auch weitere Gemeindeaktivitäten ökumenisch zu gestalten. So entstand ein ökumenischer Singkreis, ein ökumenischer Bibelkreis, auch die Kinderarbeit („Schatztruhe“) war ökumenisch organisiert. Als 2004 die römisch-katholische Kirche ankündigte, einen eigenen Pfarrer nach Shanghai zu entsenden, gab es zunächst Befürchtungen, diese gewachsene ökumenische Gemeinschaft könnte Schaden nehmen. Darum wurde eine Satzung verabschiedet, die den Status quo festschrieb: Die deutschsprachige christliche Gemeinde Shanghai ist eine ökumenische Gemeinde, in der es eine evangelische und eine katholische Gemeindegruppe gibt, die jeweils von einem evangelischen und einem katholischen Pfarrer betreut werden. Eine solche in Struktur gegossene Ökumene gibt es nicht oft in der Welt. Dennoch konnte sie trotz Schwierigkeiten auch mit dem neuen katholischen Pfarrer beibehalten werden. Als die Gemeinde weiter gewachsen ist und 2007 von der EKD ein eigener Pfarrer für Shanghai entsendet wurde, gab es wieder organisatorische Hürden zu überwinden, denn die EKD will nicht den „falschen“ Pfarrer bezahlen. Seitdem gibt es unterschiedliche Gemeindebeiträge für die katholische und für die evangelische Gemeindehälfte. Dennoch blieb die ökumenische Zusammenarbeit intakt. Auf Kirchentagen ist die Shanghaier Gemeinde in der Regel mit einem eigenen Stand vertreten und informiert über ihr Modell. Auch im Internet lässt sich Einblick in dieses gelingende Experiment ökumenischen Miteinanders nehmen: http://www.dcgs.net.

Christentum in China

Die eben beschriebene deutsche Gemeinde aus Botschaftsmitarbeitern, Arbeitern, Ingenieuren, Monteuren und deren Familien ist eine Sonderform in der chinesischen Religionslandschaft. Jahrhundertelang ist es dem Christentum kaum gelungen, in China wirklich Fuß zu fassen. Zu Beginn der christlichen Mission wurde großer Wert auf Inkulturation gelegt. Die Missionare haben sich in Sprache, Kleidung, Namensgebung etc. so weit möglich versucht, der chinesischen Kultur anzupassen. Als nach den Opiumkriegen (1840-1860) die Abschottung des Landes gelockert wurde, gründeten die Missionsgesellschaften eigene Stationen. Das führte zunehmend dazu, dass die Chinesen, die Christen wurden, ihren kulturellen Rahmen verließen. Ein Christ mehr - ein Chinese weniger. Dadurch aber blieb das Christentum eine Fremdreligion in starker Abhängigkeit von den Missionsgesellschaften. Paradoxerweise haben erst die dramatischen Umwälzungen während der Kulturrevolution dazu geführt, dass sich das Christentum in China in eigenständiger Weise inkulturiert und eine chinesische Prägung gefunden hat, die es zu einer wachsenden Bewegung werden lässt. Die offizielle Distanz zu den Missionsgesellschaften ist aber geblieben. So hat das chinesische Schriftzeichen, das den Missionar bezeichnet, in der offiziellen Sprache die Zeichenbedeutung „imperialistisches Element“. In der Bevölkerung genießen die Christen andererseits durchaus hohen Respekt, weil kaum ein Chinese auf sich genommen hätte, was die christlichen Missionarsfamilien an Opfern gebracht haben – so die Aussage eines chinesischen Germanistikprofessors. Wo die Missionare andererseits nicht das lebten, was sie predigten, schlug auch das auf den Ruf des Christentums insgesamt durch.

Nach der Kulturrevolution

Die Zeit der Kulturrevolution (1966-1976) wurde trotz harter äußerer Verfolgung zu einer Phase des Wachstums des Christentums. Die Roten Garden machten keinen großen Unterschied zwischen den Religionen. Die Christen aber haben oftmals für ihren Glauben alles riskiert. Es gab konspirative Treffen. Neue Kirchen entstanden. Spektakuläre Bibelschmuggelaktionen verteilten über 1 Million Bibeln in China. Nach der Kulturrevolution kam es zu einem Neuaufbruch des christlichen Glaubens.

Die gegenwärtige Verfassung enthält zwar das Bekenntnis zur Religionsfreiheit, gleichwohl behält der Kommunismus in China seine religionskritische Grundtendenz. Entsprechend ist das Handeln der Verwaltung in vielen Bereichen oft religionsfeindlich. Entscheidend für die Genehmigung oder Zulassung einer religiösen Betätigung ist in erster Linie die Akzeptanz der führenden Rolle der kommunistischen Partei.

Dreiselbst-Bewegung

Die offizielle protestantische Kirche in China wird von der „Patriotischen Dreiselbst-Bewegung“ repräsentiert. Bereits 1892 auf einer Missionskonferenz gab es Überlegungen, wie zu einer einheitlichen protestantischen Kirche in China zu kommen sei. Früher gab es in China sieben getrennte lutherische Synoden, die jeweils ihre Wurzeln im Wirken einer anderen Missionsgesellschaft hatten. In den 1920er Jahren haben diese sich zu einer einheitlichen lutherischen Kirche in China zusammengeschlossen, dann allerdings 1951 unter staatlichem Druck in die sogenannte Dreiselbstbewegung aufgelöst. Der Name bezieht sich auf die Selbständigkeit gegenüber den westlichen Missionsgesellschaften auf drei Ebenen:

- eigene Verkündigung

- eigene Finanzierung

- eigene Ausbildung.

Auch wenn diese Prinzipien keine Erfindung der kommunistischen Machthaber sind, sondern schon vorher innerkirchlich vertreten wurden, so hat die Führung sie doch für ihre Zwecke der Kontrolle der Religion zu instrumentalisieren gewusst. Auf eine Beschwerde über die Behandlung von Christen im neuen China vom Mai 1950 hin wurde ein Manifest verfasst, das die Prinzipien der Dreiselbst-Bewegung allen Christen verpflichtend auferlegte und deren Unterschrift einforderte. Die Dreiselbst-Bewegung bekam alle kirchenleitenden Funktionen zugeordnet und eine Hetzjagd begann auf alle, die das Manifest nicht unterzeichnen wollten. Das betraf auch eine Reihe von Kirchen, die schon lange von den Missionsgesellschaften unabhängig waren. Diese waren nie „Laufhunde des Imperialismus“ und wehrten sich gegen die Bevormundung durch den Staat. Sie bilden die Wurzel der sogenannten Hauskirchen.

Konfessionskundlich ist es schwer, die Dreiselbstbewegung einzuordnen, da sie ein Konglomerat aus mindestens 20 protestantischen Denominationen beinhaltet und strukturell weniger eine Kirche darstellt, sondern eine staatlich gelenkte Massenbewegung des Christentums in China. Darin gibt es Gemeinden lutherischer Tradition, der kürzlich verstorbene langjährige Bischof in der Dreiselbstbewegung war hingegen anglikanisch geweiht. So hat die Dreiselbst-Bewegung auch keine einheitliche Liturgie oder Theologie, sondern die jeweiligen Gemeinden bringen ihre frühere konfessionelle Prägung mit ein. Für die theologischen Fragen ist der Chinesische Christenrat innerhalb der Dreiselbst-Bewegung zuständig.

Religionsfreiheit oder Christenverfolgung?

Beides gibt es in China - je nachdem, worauf man schaut. Faktisch teilt sich das Christentum in China in 7 Bereiche auf:
1.die staatlich anerkannte nationale römisch-katholische Kirche („Katholisch-Patriotische Vereinigung“), ca. 5 Mio. Mitglieder
2.die mit Rom verbundene katholische Untergrundkirche (ca. 12 Mio. Mitglieder)
3.die protestantische Dreiselbstbewegung / Chinesischer Christenrat (staatlich anerkannt)
4.protestantische Hauskirchen (im Untergrund)
5.internationale Gemeinden (ohne Verbindung mit Chinesen)
6.orthodoxe Kirche Chinas (jetzt zum Moskauer Patriarchat gehörig, ca. 20 000 Mitglieder)
7.aus dem Christentum hervorgegangene Sondergemeinschaften, wie z.B. Eastern Lightning (ca. 1. Mio. Mitglieder), Zeugen Jehovas u.a.

Innerhalb der offiziellen Kirchen, d.h. derjenigen, die bei einer der beiden „patriotischen Vereinigungen“ (katholisch & Dreiselbst-Bewegung) registriert wurden und unter deren Kontrolle stehen, sind religiöse Betätigungen erlaubt, solange die führende Rolle der kommunistischen Partei in der Gesellschaft nicht in Frage gestellt wird.

Außerhalb dieser werden religiöse Aktivitäten hingegen als „Kulte“ und „Sekten“ bekämpft. Diejenigen Netzwerke, welche sich der Auflösung in die Dreiselbst-Bewegung widersetzt haben, sind in den Untergrund gegangen und agieren dort als Hauskirchen.

Die ausländischen Gemeinden in China können ihre Gemeindeaktivitäten im inneren weitgehend ungestört entfalten. Allerdings verstößt es gegen derzeit geltendes Recht, als ausländischer Geistlicher Chinesen in den Gottesdienst einzuladen. Ausländische und chinesische Kirchen werden also weitestgehend getrennt. Zudem erwerben ausländische Kirchen keine Rechtspersönlichkeit, was z.B. die Anmietung von Gottesdiensträumen kompliziert werden lässt. Wer sich als Ausländer unbeliebt macht, riskiert, dass sein Visum nicht mehr verlängert wird. Offiziell ist es verboten, Kinder unter 18 Jahren religiös zu unterrichten. Durch die intensive Chorarbeit der Gemeinden wird dies aber etwas unterlaufen.

Konservativ - evangelikal - charismatisch

Trotz der staatlichen Einschränkungen breitet sich das Christentum in China aus. Viele junge Chinesen sind sehr missionarisch und bereit, für ihren Glauben alles zu riskieren. Das Christentum in China ist mehrheitlich konservativ, evangelikal und charismatisch geprägt. Beziehungen zur internationalen charismatischen Bewegung bestehen zwar nicht, aber die Geistesgaben werden praktiziert und die Erfahrung von Heilungen ist für einige der Anstoß zur Konversion. Für Christen in China gehört es dazu, nicht zur dominierenden Mehrheit zu gehören und Leid zu ertragen, zugleich aber auch Gemeinschaft und Orientierung für das Leben in ihren Zusammenkünften zu erfahren.

Bei der Gründung der Volksrepublik China gab es weniger als 1% Christen (etwa 3 Mio. Katholiken und 1 Mio. Protestanten). Inzwischen gibt es nach offiziellen Angaben ca. 19 Mio. Christen in China, anderen Autoren zufolge sogar 30-80 Millionen Christen, was einem Bevölkerungsanteil von bis zu 7% entsprechen würde. Exakte Zahlen sind unter den Umständen der Verfolgung aber nicht zu gewinnen. Man kann gespannt sein, wie die Entwicklung des Christentums in China weiter verläuft.

Dr. Harald Lamprecht

ist Beauftragter für Weltanschauungs- und Sektenfragen der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens und Geschäftsführer des Evangelischen Bundes Sachsen.

Artikel-URL: https://www.confessio.de/artikel/311

Dieser Beitrag ist erschienen in Confessio 3/2013 ab Seite 16