Schreckensmission

Wie Bekehrungsdruck vorhandenen Glauben zerstören kann

In den Kirchgemeinden der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens besteht vielfach ein erklärtes Interesse daran, den christlichen Glauben weiterzugeben. Insbesondere die vielen Menschen, die hier im Osten Deutschlands noch nie einen Bezug zu Kirche und Glauben hatten, sollten im Ziel missionarischer Bemühungen stehen, so kann man es immer wieder hören.
In der Praxis sieht es aber ganz anders aus. Die Kirchgemeinden schmoren oft im eigenen Saft und die Hürden zur Überwindung der gegenseitigen Fremdheit sind hoch. Nicht dass das Bemühen fehlen würde – im Gegenteil: In manchen Kreisen gibt es regelmäßig Zeltmissionen oder ähnliche missionarisch angelegte Veranstaltungen, die mit dem erklärten Ziel durchgeführt werden, Außenstehende zu einem Leben mit Jesus einzuladen. Das klingt gut und so können solche Veranstaltungen oft erhebliche Spendenmittel gewinnen. Doch haben sie einen grundsätzlichen Geburtsfehler, der sie nicht geeignet sein lässt, tatsächlich Menschen aus einem nichtchristlichen Umfeld zu erreichen. Stattdessen dienen sie vor allem zur Selbstbestätigung der Veranstalter und ihrer Getreuen. Die Gräben zu Außenstehenden vertiefen sie eher noch, als sie zu überbrücken. Warum das so ist, wurde an einem tragischen Beratungsfall in der Arbeitsstelle für Weltanschauungsfragen beispielhaft deutlich.

Ursprüngliches Gottvertrauen

Der Ratsuchende, Herr F., entstammt einem sogenannten atheistischen Elternhaus, wobei der Begriff nicht ganz stimmt, denn es war mehr die allgemein verbreitete Bedeutungslosigkeit für religiöse Dinge prägend und keine bewusst atheistische und religionsfeindliche Einstellung. Als Jugendlicher bekam er über Klassenkameraden Kontakt zu christlichen Familien, wo ihn z.B. das Tischgebet positiv berührte. In seinem Inneren hatte er schon immer gespürt, dass es so etwas wie Gott geben müsse und dass man ihm vertrauen kann. Der Glaube an den liebenden, barmherzigen Gott, war ihm ins Herz gegeben, ohne dass sein familiäres Umfeld das befördert hätte. Er hatte auch keine Vorurteile, was Kirche anbetrifft. So besuchte er die junge Gemeinde in der evangelisch-lutherischen Kirchgemeinde seines Ortes. Dort ließ er sich dann auch taufen. Die Motivation dazu war deutlich der Wunsch nach Zugehörigkeit zu Gott, zu dem er von Anbeginn ein positives inneres Verhältnis hatte. Die Sorge um persönliche Errettung war damals kein Thema für ihn, wie er im Rückblick feststellt. Seine alleinerziehende Mutter hat ihn problemlos gewähren lassen und sich für ihn freuen können, auch wenn sie selbst keinen Zugang zum Glauben fand.

Die Schar der Geretteten

Paradoxerweise waren es nun gerade die in der Jugendarbeit dieser Gemeinde gepflegte missionarische Ausrichtung und damit zusammenhängende theologische Schwerpunktsetzungen, die diesen jungen Mann in eine schwere Krise stürzten und am Glauben verzweifeln ließen. In dieser Gemeinde gehörte eine starke Zweiteilung zwischen „drinnen“ und „draußen“ zu den allgemein geteilten Grundüberzeugungen. Die Christen bilden die Schar der Geretteten, während die anderen, die Jesus nicht annehmen, im Gericht verloren gehen. Damit Letzteres nicht geschieht, braucht es missionarische Anstrengungen, um möglichst viele Außenstehende noch zu bekehren und so zu retten.

Bekehrungsdruck

Alle Veranstaltungen der evangelischen Jugend bestehen in der Regel aus den zwei (unterschiedlich intensiven) Teilen. Es gibt ein schönes Event zur Gemeinschaftspflege: gemeinsames Schwimmen im Bad, gemeinsames Grillen, ein Volleyballturnier etc. Danach gibt es einen „Impuls“ als geistliche Ansprache und zur Glaubensinformation.
Die Jugendarbeit in dieser Gemeinde wurde in enger Zusammenarbeit mit dem Evangelisationsteam Sachsen organisiert. Unter derem Einfluss folgte dort die innere Struktur dieses „Impulses“ ebenso wie Jugendgottesdienste, Evangelisationen und andere Veranstaltungen in der Regel dem gleichen Schema in der Verkündigung:
1.Gott gibt es wirklich. Das ist schön, denn er liebt auch dich.
2.Es gibt aber ein ernsthaftes Problem: Wir sind von Gott getrennt durch die Sünde.
3.Gott hat aber einen Rückweg eröffnet. Er hat sich selbst hingegeben und auch deine Schuld am Kreuz getragen.
4.Du stehst nun vor der Entscheidung, dieses Geschenk Gottes im Glauben anzunehmen oder es zurückzuweisen und verloren zu gehen.
Alles läuft darauf hinaus, dass innerhalb von 20 Minuten eine Entscheidungssituation aufgebaut wird. Sie mündet in die Frage, auf welcher Seite in dem kosmischen Drama du stehen willst: Licht oder Finsternis? Himmel oder Hölle? Gerettet oder verdammt? Es liegt an dir. Willst du mit Jesus leben, dann komm vor zur Bühne und stell dich unter das Kreuz - so das übliche Vorgehen.

Höllenangst

Diese Zuspitzung auf eine Entscheidungssituation hat erklärtermaßen das Ziel, Menschen, die vorher keine Christen waren, Christ werden zu lassen, indem sie zu einer solchen Entscheidung für Jesus gedrängt werden. Bis einschließlich Punkt 3 ist die Argumentation auch theologisch nachvollziehbar. Das Problem liegt bei Punkt 4 und dort insbesondere bei den oft unausgesprochenen, aber immer mit gedachten Voraussetzungen. Die kleine aber in der Wirkung absolut fatale Verschiebung beginnt dort, wo nicht mehr die Liebe und Zuwendung Gottes im Zentrum der Verkündigung steht, sondern die Angst vor Verworfenheit und Hölle geschürt wird. Solches geschieht möglicherweise aus lauteren missionarischen Absichten, um den Druck zur Entscheidung noch etwas zu erhöhen. Die Wirkung kann aber leicht in das Gegenteil umschlagen, wie der hier vorgestellte Fall eindrücklich belegt. Die Trennung der Menschheit in die „Erlösten“ (Christen) auf der einen Seite und die verworfenen Nichtchristen aller Couleur auf der anderen Seite bildete den Hintergrund der Verkündigung, auch wenn es nicht immer explizit formuliert wurde. Bei dem jungen Mann bewirkte dies je länger desto stärkere Umwandlungen in seinem Glauben. Mit jeder besuchten Veranstaltung, mit jeder gehörten Verkündigung, die dieses Schema bediente (und das waren viele), verlor er ein Stück seines ursprünglichen Gottvertrauens. Es wurde umgewandelt in Angst und Sorge darum, auf der richtigen Seite zu stehen und vor Gericht und Hölle bestehen zu können. Sein anfänglich unbeschwertes Zusammenleben mit Gott wurde ersetzt durch die Zielstellung, gerettet werden zu müssen und andere zu retten.

Verzweifelte Sorge

Die Sorge um Errettung galt nun zunächst eigentlich gar nicht für ihn persönlich, denn er war ja getauft und Christ und wollte ohne Frage mit Jesus leben. Das galt dafür in umso stärkeren Maße für seine Familie, seine Mutter, seine Freundin und spätere Ehefrau, die eben allesamt keine Christen waren. Er spürte einen zunehmenden inneren Druck, sich zwingend um deren Bekehrung bemühen zu müssen. Das Motiv dazu war nun aber nicht, wie er es ursprünglich selbst erfahren hatte, um von der Liebe Gottes ergriffen zu werden, sondern, wie er es inzwischen gelernt hatte, um der ewigen Hölle zu entgehen. Für diese war die Höllenangst jedoch kein nachvollziehbares Motiv. Das änderte aber nichts an dem wachsenden seelischen Druck von Herrn F., der, je stärker er sich um seine Familienmitglieder bemühte, desto weniger das attraktive Bild des glücklichen Christen abgab, der von der Liebe Gottes ergriffen und befreit ist. Stattdessen verwandelte er sich unter dem Einfluss der Predigten immer mehr in einen fanatisierten zwanghaften Ideologen, der für Außenstehende eher Zweifel am Nutzen von Religion entstehen lässt.

Ausgrenzende Selbstvergewisserung

Seine veränderte biografische Situation macht es deutlich: Das missionarisch gemeinte Schema von der unerlösten Welt da draußen und der glücklichen geretteten Schar der Christen drinnen funktioniert nur dann wirklich gut, wenn alle Beteiligten und deren soziales Umfeld schon Christen sind. Es dient vor allem der Abgrenzung und der Selbstvergewisserung, auf dem rechten Weg zu sein, und zur Warnung derer, die „drin“ sind, dass sie ja nicht abfällig werden und nach „draußen“ gelangen sollen. Eine empirische Untersuchung zu Pro Christ in Leipzig ergab, dass 92% der Besucher bereits an Gott glaubten und etwa 80% zur „Kerngemeinde“ gehörten. Die Forscher schlussfolgerten daraus, dass Pro Christ vor allem der Selbstvergewisserung für die Veranstalter dient, und nur geringe missionarische Ausstrahlung aufweist.3 Wenn es darum geht, im Rahmen der Evangelisationsveranstaltung nach vorn zu kommen, können Entscheidungsdruck und Gruppendynamik durchaus Konversionen bewirken. Bei Menschen, deren Großteil des sozialen Bezugssystems Christen sind, gibt es damit im Nachhinein in der Regel auch keine schweren Probleme. Wo aber – wie im vorliegenden Fall – wirklich mal jemand „von außen“ zu diesen ansonsten in sich geschlossenen Kreisen hinzukommt, sieht es grundlegend anders aus. Dann verhindert dieses Schema mit einer harten Gegenüberstellung von „drinnen“ und „draußen“, („wir“ sind „erlöst“ und „die anderen“ „verloren“) bei den allermeisten sehr schnell ein weiteres Sich-Einlassen auf diesen Weg.

Zusammenbruch

Herr F. hatte sich davon nicht gleich abschrecken lassen, sondern war engagiertes Gemeindeglied geworden. Die inneren Konflikte brachen dennoch aus und wurden dadurch möglicherweise noch heftiger. Allmählich hat er immer mehr Angst bekommen. Die Lehre, allein gerettet zu sein, trieb ihn „in den Wahnsinn“, wie er es rückblickend formuliert. Er begann, seiner Frau mit der Hölle zu drohen, wenn sie nicht Jesus als ihren Retter annehme. Nach der Geburt des ersten Kindes kam der psychische Zusammenbruch – ausgelöst durch die Sorge, wie er dieses Kind zum christlichen Glauben erziehen könne. Er musste seinen Sohn retten, aber wie sollte er ihm erklären, dass Gott ihn liebt, wenn derselbe Gott seine liebevollen Großeltern und ebenso seine eigene Mutter für immer in der Hölle schmoren lassen sollte? Sein ganzes Vertrauen in Gott war zusammengeschmolzen. Er war verzweifelt, zunächst nicht aus Angst um sich selbst, sondern aus Angst um die Anderen. Er spürte den Druck, die ganze Welt retten zu müssen, sonst komme sie in die Hölle. Seine engsten christlichen Freunde glaubten das ganz fest – und seiner nichtchristlichen Familie war es egal. Aufgerieben zwischen diesen Positionen wandelte sich sein Gottvertrauen in Zweifel und ein Gefühl der Verlassenheit: Was ist das für ein Gott, der so etwas fordert, der so etwas mit seinen Geschöpfen macht? Er zweifelte nicht an der Lehre, die ihm in der Gemeinde vermittelt wurde, schließlich kannte er keine anderen Sichtweisen. Darum richtete sich Hass und Verzweiflung gegen Gott, von dem er doch abhängig war. Es war das Gefühl, selbst schon in der Hölle zu sein, in die er ja nun doch auch selbst noch kommen würde, wenn er all das nicht mehr glaube. Panikattacken und Angstanfälle waren die Folge.

Verbrannte Emotionen

Nach dem psychischen Zusammenbruch suchte er Hilfe. Ein beruflich motivierter Umzug nach Leipzig änderte die Rahmenbedingungen. Er fand Kontakt zu Psychologen und insbesondere zu anderen Pfarrern, die ihm eine andere Sichtweise vermitteln konnten. Der Rat, sich am Gleichnis vom verlorenen Sohn zu orientieren, war hilfreich. Seitdem kann er sich allmählich stabilisieren. Er stand bereits kurz vor dem Kirchenaustritt. Gehalten hat ihn dann die Erfahrung, dass ihm auch innerhalb der Kirche geholfen wurde und es Mitarbeiter und Pfarrer gibt, die auch Probleme mit dieser Lehre haben und das offen zugeben. Aber der Besuch des normalen lutherischen Gottesdienstes fällt ihm schwer. An zu vielen Stellen werden Assoziationen aufgerufen, welche die Mühle der Angst wieder in Bewegung setzen. Derzeit verlässt er den Gottesdienst nicht gestärkt, sondern geschwächt. Es wird noch einige Zeit und viele Gespräche mit anderen Christen brauchen, die geduldig die Fragen und Zweifel anhören und ihre Deutung neben die erlernten Muster setzen, damit Besserung eintreten kann.

Fazit

Der konkrete Fall zeigt sicherlich eine individuelle psychische Überreaktion, die glücklicherweise nicht zu verallgemeinern ist. Aber diese Überreaktion führte dazu, aus der Stufe der Unsichtbarkeit herauszutreten und die dahinterliegenden problematischen Strukturen deutlich werden zu lassen. Wir wissen nicht, wie viele ähnlich gelagerte Fälle es gibt, die aber keine psychischen Störungen entwickeln, sondern einfach still wieder verschwinden und nie wieder etwas mit Christentum und Kirche zu tun haben wollen. Darum ist es wichtig, diesen Fall nicht einfach zu den Akten zu legen, und darum hat Herr F. auch der Veröffentlichung in dieser Form zugestimmt.
Wenn es der evangelischen Kirche ernst ist, dass sie offen und einladend auch für Menschen sein will, die (noch) keine Christen sind, dann sollte dringend überlegt werden, wie solche Schicksale vermieden werden können. Der grundsätzliche Verzicht auf Drohungen in der Mission gehört elementar mit dazu.

Harald Lamprecht

Artikel-URL: https://www.confessio.de/artikel/330

Dieser Beitrag ist erschienen in Confessio 3/2015 ab Seite 12