Cover Rheinische Handreichung + EZW-Text 248
Der EZW-Text 248 befasst sich intensiv mit der rheinischen Handreichung

Missionsverzicht?

Debatte um die Rolle von Mission und Dialog in der interreligiösen Begegnung

Im Bereich der Evangelischen Kirche wird auf verschiedenen Ebenen intensiv darüber diskutiert, in welchem Verhältnis Mission und Dialog in der interreligiösen Begegnung zueinander stehen. Ein Katalysator für die aktuelle Debatte ist die Handreichung der Evangelischen Kirche im Rheinland „Weggemeinschaft und Zeugnis im Dialog mit Muslimen“, in der ein grundsätzlicher Verzicht auf eine „strategische Mission“ unter Muslimen gefordert wird. Der Text ist von verschiedenen Seiten stark kritisiert worden, findet aber nach wie vor auch seine Befürworter. Oft wird aneinander vorbei geredet, weil verschiedene Vorstellungen davon existieren, was jeweils unter „Mission“ oder „Dialog“ zu verstehen sei. Jenseits der Begrifflichkeiten scheint es aber noch tiefer liegende konzeptuelle Differenzen zu geben, die aus unterschiedlichen Formen der eigenen Religionspraxis resultieren.

Primäre und Sekundäre Religionen

Der Missionswissenschaftler Theo Sundermeier hat im Blick auf ihre Stellung zur Mission phänomenologisch zwischen sogenannten „primären“ und „sekundären“ Religionen unterschieden. Primäre Religionen sind z.B. Stammesreligionen und dadurch charakterisiert, dass Religion und Kultur in ihr eine unlösbare Verbindung eingegangen sind – oft gibt es nicht einmal ein Wort für „Religion“. Zu solch einer Religion kann man nur gehören, wenn man mit den Menschen lebt, ihre Regeln befolgt und ihre Riten feiert. Was man dabei persönlich glaubt und empfindet, ist relativ nebensächlich. Entscheidend ist, dass man sich wie ein Glied der Gemeinschaft verhält. Diese Religionen haben grundsätzlich kein Interesse an Mission. Der Nachbarstamm hat seine eigenen Riten und es hätte keinen Sinn, wenn er die eigenen übernehmen würde.

Im Unterschied dazu geht es bei den sekundären Religionen um eine Botschaft und einen Inhalt des Glaubens. Sie gehen auf Reformer oder Stifter zurück, die eine Lehre vermitteln. Die mit dieser Lehre vermittelten Einsichten sind in ihrem Anspruch in der Regel universell, d. h. sie richten sich nicht nur an ein bestimmtes Volk, sondern an die gesamte Menschheit. Mitglied einer solchen Religion wird man, indem die von der Religion vertretene Lehre als „wahr“ angenommen und geglaubt wird. Dies ist zunächst ein individueller Vorgang. Sekundäre Religionen sind ihrem Wesen nach missionarisch, denn das Drängen nach der Verbreitung ihrer Botschaft ist ihnen strukturell eingestiftet. In der Regel haben sich sekundäre Religionen auf der Basis einer primären Religion entwickelt. So ist das Judentum eine primäre Religion – bezogen auf ein Volk und ohne Interesse daran, dass alle Menschen Juden werden sollten. Das Christentum hingegen entstand als sekundäre Religion auf dem Boden des Judentums mit der Botschaft von Jesus Christus als Erlöser, zu der sich Juden wie Heiden bekennen können. In ähnlicher Weise entstand aus den Lehren des Gautama Siddharta in Indien der Buddhismus als sekundäre Religion auf dem Boden des (primären) Hinduismus. Der Islam oder auch Bahai oder Mormonentum erfüllen ebenso alle Kriterien einer sekundären Religion. Von sekundären Religionen den Verzicht auf Mission zu fordern ist strukturell genauso unsinnig, wie sie von primären Religionen zu erwarten.

Das Auftreten einer sekundären Religion erzeugt im Bereich der zugrundeliegenden Primärreligion naturgemäß Unruhe und Auseinandersetzungen, werden doch grundlegende Prinzipien der Verbindung von Volks- und Religionszugehörigkeit aufgegeben. Der theologische Universalismus erlaubt eine Mischung der Ethnien bei gleicher Religion, weil die Religion eben nicht mehr ererbt sein muss. Zugleich gehört das Eintreten für individuelle Religionsfreiheit zur prinzipiellen Möglichkeit des persönlichen Glaubenswechsels im Kontext sekundärer Religionen, während primäre Religionen zwar akzeptieren, dass es anderswo andere Religionen gibt, ein Religionswechsel des Individuums im Konzept aber nicht vorgesehen ist.

Volkskirche contra Missionsvereine

Was passiert mit einer sekundären Religion, wenn sie die Mehrheit stellt und somit gesellschaftliche Normalität repräsentiert? Die Konturen in Sundermeiers Modell werden dann unscharf. Auch eine sekundäre Religion kann in der Situation einer Volkskirche teilweise primäre Züge annehmen: Es genügt vielfach, die Riten aus gesellschaftlicher Konvention zu befolgen. Persönliche innere Entscheidungsvorgänge bleiben zwar in der Theorie beteiligt, spielen in der Praxis aber kaum eine Rolle. Solange die Riten und Konventionen (Taufe, Konfirmation, Hochzeit, Beerdigung) eingehalten werden, besteht gesellschaftliche Akzeptanz. Das ist auch insofern folgerichtig, weil der individuelle Glaube nicht äußerlich sichtbar ist.

Der Pietismus kann in diesem Modell als Beispiel für eine Gegenströmung interpretiert werden, weil er den persönlichen Entscheidungscharakter des Glaubens in eine Situation traditionsorientierter ritenbasierter Religiosität einträgt und festzuhalten sucht. Dies hat seine Entsprechung in der Geschichte der christlichen Mission: Träger der Weltmission des 18. und 19. Jahrhunderts waren in erster Linie nicht die Volkskirchen selbst, sondern freie Vereine, oft mit mehr oder weniger ausgeprägtem pietistischem Hintergrund. Insofern ist es gar nicht verwunderlich, sondern folgt einer inneren Logik, dass die gegenwärtig verbreitete Absage an Mission als Motivation zum individuellen Religionswechsel wiederum aus deutlich volkskirchlich geprägten Kontexten kommt.

Scheingegensätze?

Ist die Absage an Mission damit Rückfall in die Stammeskultur? In der Regel scheuen auch ihre Vertreter diese Konsequenz, denn auch sie wissen, dass das Christentum davon getragen ist, dass es eine gute Botschaft (griech: eu-angelion -> Evangelium) zu verkünden hat, und wollen das individuelle Zeugnis des eigenen Glaubens nicht ausschließen. Deshalb verliert der Gegensatz an Schärfe, wenn man ins Gespräch eintritt. Auch die Befürworter von Mission wissen, dass „strategische“ Planungen keinen individuellen Glauben „machen“ können, dass Arroganz und Rechthaberei fehl am Platz sind und allein die Begegnung in gegenseitigem Respekt und Wertschätzung die Basis darstellt, auf der Vertrauen und letztlich auch Glaube wachsen kann, und dass aus einem Gespräch über den Glauben beide Partner verändert hervorgehen.

Ein auf höchster ökumenischer Ebene erarbeitete Verhaltenskodex für Mission mit den Kernbegriffen „Mission“ und „Respekt“ spiegelt diese Aspekte wider und erweist sich damit als hilfreicher Leitfaden.


http://www.mission-respekt.de
http://medienpool.ekir.de/archiv/A/Medienpool/83889
http://ezw-berlin.de/html/119_8696.php
https://doi.org/10.14315/vf-2004-0204

 

Dr. Harald Lamprecht

ist Beauftragter für Weltanschauungs- und Sektenfragen der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens und Geschäftsführer des Evangelischen Bundes Sachsen.

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