"Hinreichende Tatsachenfeststellung" ohne Zeugenbefragung

Zum Prozess der Zeugen Jehovas um Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts

Zum Hintergrund des Prozesses um Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts in Berlin erläuterte der Sektenbeauftragte der Evangelischern Kirche Berlin-Brandenburg Schlesische Oberlausitz, Pfr. Thomas Gandow, in dem von ihm herausgegebenen DZB-Rundbrief folgendes:

„Hinreichende Tatsachenfeststellung“ ohne Zeugenbefragung?

In dem seit 10 Jahren laufenden Rechtstreit hatte zuletzt das Bundesverwaltungsgericht das Verfahren an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen mit der Begründung, das Oberverwaltungsgericht sei von einem zu großzügigen Verständnis von den Verleihungsvoraussetzungen ausgegangen und habe daher keine hinreichenden Tatsachenfeststellungen zu möglichen Gefährdungen der Grundrechte Dritter getroffen.

Um so mehr hatte es erstaunt, dass das OVG Berlin erneut ein Urteil allein nach Aktenlage fällte und sich nicht die Mühe gemacht hat, auch nur einen einzigen Zeugen zu laden.

Stattdessen bezieht sich die Urteilsbegründung passagenweit auf den Bericht einer Enquete-Kommission des 13. Deutschen Bundestages, der doch „das Ergebnis einer zweijährigen Aufklärungsarbeit“ sei.

Dem Gericht lag zwar eine Fülle von Berichten von Austrittswilligen und Ausgetretenen über Repressalien und Probleme vor. Das Gericht stellte diese durchaus glaubwürdigen Berichte aber in Frage mit dem Hinweis auf die jeweils zu überprüfende besondere psychische Verfassung der Berichtenden. Und hielt es nicht für nötig, auch nur einen der Betroffenen anzuhören.

Stattdessen bezieht sich die Urteilsbegründung zur Abwehr von Betroffenenberichten von ehemaligen Jehovas Zeugen u.a. auch auf die Glaubwürdigkeit der „Erfahrungsberichte ‚deprogrammierter‘ Aussteiger“ und „mit Zwang aus der Gemeinschaft gelöste Aussteiger“ aus neuen religiösen Bewegungen und ihre Bewertung durch den Diplompsychologen Dr. Murke.

Sekten als Körperschaften

Schon vor den Zeugen Jehovas haben andere christliche Sekten in vielen Bundesländern die Rechte und Privilegien einer Körperschaft des öffentlichen Rechts erhalten. (u.a. die Neuapostolische Kirche, die Mormonen und in Berlin auch die Johannische Kirche). Mit der Zuerkennung dieses Status ändert sich lediglich die Rechtsform, nicht aber der Charakter einer Religionsgemeinschaft. Das Besondere bei der Zuerkennung der Körperschaftsrechte an die Wachtturm-Gesellschaft liegt aber darin, dass die Wachtturm-Gesellschaft den verleihenden Staat nicht nur grundsätzlich ablehnte, sondern in ihren eigenen Schriften auch dämonisiert: „Somit können wir logischerweise schlussfolgern, dass das wilde Tier aus der Offenbarung menschliche Regierungen darstellt. Da sich diese Regierungen dem Königreich Gottes widersetzen, bilden sie einen Teil des Antichristen.“ (Erwachet vom 8.8.2001). - In öffentlichen Erklärungen zum Urteil des OVG heißt es jetzt, Jehovas Zeugen betrachteten den „Staat als Gottes Diener“.

Folgen

Die Wachtturm-Gesellschaft hatte laut Presseberichten während des Verfahrens erklärt, es ginge ihr vor allem um Steuervorteile und die mit dem Status verbundene Aufwertung ihres Ansehens. Nach vollzogener Statusverleihung als Körperschaft des Öffentlichen

Rechts im Bundesland Berlin erwägt die WTG, den Status auch in allen anderen Bundesländern zu beantragen. „Bisher war die Erstverleihung in einem Land entscheidend, dann setzt ein gewisser Automatismus ein“ hofft WTG-Anwalt Glockentin.

Die Folgen der Verleihung von Körperschaftsrechten in Bezug auf andere, ebenfalls problemverursachende Religionsgemeinschaften und grundsätzlich auf den Körperschaftsstatus von Kirchen und Religionsgemeinschaften überhaupt sind noch nicht abzusehen.

Thomas Gandow

Artikel-URL: https://www.confessio.de/index.php/artikel/140

Dieser Beitrag ist erschienen in Confessio 4/2005 ab Seite 06