Menorah vor der Knesset

Israel-Kritik?

Legitime Kritik oder israelbezogener Antisemitismus?

Der nachfolgende Artikel entstand in Rahmen eines Praktikums in der Arbeitsstelle Weltanschauungsfragen bereits vor dem mörderischen Überfall der Hamas auf Israel. Die in der Folge entbrannten Debatten zeigen, dass das Thema extrem aktuell und brisant ist.

Ob Ruangrupas Kunstwerke auf der Documenta 2022 (1), die Bezeichnung Israels als „Apartheitsstaat“ (2) oder die Boykottaufrufe gegen Israel auf der Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen 2022 (3): In den letzten Jahren wurde im öffentlichen Diskurs immer wieder darüber gestritten, wann es sich bei einer Äußerung um legitime Kritik an bestimmten Maßnahmen des Staates Israel handelt und ab welchem Punkt sie als israelbezogener Antisemitismus einzustufen und somit zu verurteilen ist.

Die Internationale Allianz zum Holocaustgedenken verabschiedete folgende Arbeitsdefinition von Antisemitismus: „Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.“ Die Bundesregierung erweiterte diese Definition um einen weiteren Satz: „Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein.“ (4)

Kommunikationsformen des Antisemitismus

Historisch wurde Antisemitismus über direkt kommunizierte Vorurteile und Verschwörungsmythen verbreitet. So seien „die Juden“ gierig, böse und manipulativ und würden im Rahmen einer Weltverschwörung sämtliche Macht an sich reißen wollen.  Seit 1945 ist dieser primäre Antisemitismus sozial geächtet und infolgedessen in den Hintergrund getreten.

Wesentlich häufiger tritt Antisemitismus im privaten wie im öffentlichen Raum in den Formen von sekundärem und israelbezogenen Antisemitismus auf. Sekundärer Antisemitismus bezeichnet Äußerungen, die die Shoa leugnen oder verharmlosen und eine fortgeführte Erinnerungskultur ablehnen.

Israelbezogener Antisemitismus projiziert die alten Ressentiments gegen Juden auf den Staat Israel und nutzt Kritik an diesem zur Kommunikation dieser Vorurteile. Kritische Äußerungen werden als ein Trojanisches Pferd genutzt, um in einem vermeintlich sozial akzeptierten Rahmen Antisemitismus äußern zu können. Wird der Antisemitismus hinter scheinbar kritischen Äußerungen nicht aufgedeckt und ihm entschieden entgegengetreten, setzt er sich innerhalb einer Gesellschaft fest und wird Handlungsgrundlage. Er mündet in Diskriminierung, verbaler und physischer Gewalt.

Dämonisierung und Doppelstandards

Kritik, das heißt Prüfung und gegebenenfalls Benennung von Missständen, muss beim Staat Israel genauso möglich sein wie Kritik bei allen anderen Staaten der Welt. Wie aber ist es möglich zu prüfen, ob bei einer Äußerung israelbezogener Antisemitismus oder legitime Kritik vorliegt?

Der israelische Politiker Nathan Sharansky entwickelte ausgehend von dieser Frage 2004 die 3D-Regel: Israelbezogener Antisemitismus dämonisiert, delegitimiert und verwendet Doppelstandards.(5)

Das Europäische Zentrum zur Beobachtung von Rassismus und Xenophobie entwickelte dieses Konzept weiter und führt fünf konkrete Anwendungsmerkmale auf (6):

  1. Aberkennung des Existenz- und Selbstbestimmungsrechtes Israels: Israel ist der einzige jüdische Staat der Welt. Er wurde während einer Umbruchsphase der Weltgeschichte gegründet, die geprägt war von neuen Grenzziehungen und Flüchtlingsströmen. Menschen, die auf der Flucht waren und oftmals als einzige Mitglieder ihrer Familie den Genozid überlebt hatten, fanden in diesem Staat ein neues Gemeinwesen, in dem sie sich sicher und beheimatet fühlen können. Auch 70 Jahre nach der Shoa sind jüdische Menschen weltweit Antisemitismus und Diskriminierung ausgesetzt und finden in Israel einen für sie sicheren Schutzraum.Die Diffamierung Israels als eines „Fremdkörpers“ oder „kolonialen Projektes“ verharmlost sowohl die Auswirkungen der Shoa als auch die noch bestehende reale Gefährdung jüdischer Menschen weltweit.
     
  2. Gleichsetzung Israels mit dem Nationalsozialismus: Aussagen wie „Wie Israel mit den Palästinensern umgeht ist auch nicht anders als der Umgang der Nazis mit den Juden“ oder „Israel begeht einen Genozid an den Palästinensern“ setzen das politische Handeln des Staates Israels mit dem der deutschen Nationalsozialisten gleich. Die faktischen Gegebenheiten vor Ort lassen eine solche Gleichsetzung aber absurd erscheinen. Die Verbrechen der Nationalsozialisten werden dadurch einerseits verharmlost und Israel andererseits dämonisiert.
     
  3. Anlegen anderer Maßstäbe an Israel als an andere Länder: Wird von Israel ein Verhalten gefordert, das von keinem anderen demokratischen Staat erwartet wird, so können diese Doppelstandards ebenfalls ein Ausdruck von antisemitischen Einstellungen sein.
     
  4. Verantwortlichmachen von Juden aus aller Welt für das Regierungshandeln Israels: Des Weiteren äußert sich israelbezogener Antisemitismus in einer mangelnden Differenzierung zwischen jüdischen Menschen, Israelis und israelischer Regierung. So stufte das zuständige Amtsgericht den Brandanschlag auf die Synagoge von Wuppertal 2014 nicht als antisemitisch motiviert ein, weil die Täter nur „Aufmerksamkeit auf den Gaza-Konflikt“ lenken wollten. Später revidierte ein Landgericht diese Entscheidung. Mit Taten dieser Art werden jüdische Menschen kollektiv für die Handlungen anderer Akteure bestraft und die von Hass motivierte Gewalt an ihnen gerechtfertigt.
     
  5. Bezugnahme auf Israel und Israelis mit antisemitischen Bildern, Symbolen und Floskeln: Wird Israel als „Kindermörder“ bezeichnet oder seine Politiker auf einem Kunstwerk mit Schweinsnase dargestellt, so wird Israel nicht kritisiert, sondern jahrhundertealte Verschwörungsmythen wie das Narrativ vom jüdischen Ritualmord auf heutige Kontexte übertragen.

    Die Bundeszentrale für politische Bildung fügt noch ein weiteres Kriterium hinzu:
  6. Bestreitung der Möglichkeit legitimer Israelkritik: Kritik an Israel wird als ein vermeintlicher „Tabubruch“ dargestellt: Sämtliche Medien würden auf der Seite Israels stehen und kritische Stimmen systematisch unterdrückt. Instrument der Wahl für das mundtot machen sei die „Antisemitismuskeule“: Wer Israel – aus deren Sicht legitim – kritisiere, würde sofort – aus deren Sicht zu Unrecht – des Antisemitismus bezichtigt werden. Diese Einstellung ist aus zweierlei Gründen problematisch: Erstens bedient sie das alte antisemitische Narrativ von „den Juden“, die angeblich die „Medien kontrollieren“ und überproportional viel Einfluss auf die Politik ausüben würden und so die Möglichkeit hätten, jegliche Kritik zu unterbinden. Zweitens betreibt die Antisemitismusleugnung eine Täter-Opfer-Umkehr: Nicht die Antisemitismusäußerung sei das Problem, sondern die Menschen, die „übersensibel“ reagieren und hinter jeder „harmlosen“ Aussage Antisemitismus wittern. Damit soll jede Kritik an tatsächlich antisemitischen Äußerungen von vornherein delegitimiert werden. Selbstverständlich ist sachgerechte Kritik an der Politik Israels sowohl in den öffentlich-rechtlichen Medien präsent als auch von deutscher staatlicher Seite aus vorhanden und stellt keinen Tabubruch dar.

Kriterien legitimer Kritik

Wie aber kann legitime „Israelkritik“ aussehen? Zunächst ist sie eben keine „Israelkritik“, sondern Kritik an konkreten Vorgängen oder Zuständen in Israel.

Wer solches aufrichtig möchte, tut dies vor dem Hintergrund, dass jeder Mensch das Bedürfnis hat, nach einem selbstbestimmten Leben in Freiheit und Sicherheit zu streben. Berechtigte Israelkritik hat das Wohlergehen und die Geschichte aller Beteiligten im Blick. Sie nimmt die Konfliktparteien nicht als homogenen Block wahr, sondern als Gruppe von Akteuren mit je wieder unterschiedlichen Meinungen, Lösungsansätzen, Gewaltpotenzial und Motiven. Sie redet nicht verallgemeinernd von „den Juden“ oder „den Arabern“ und charakterisiert diese mit stereotypen Eigenschaften, sondern ordnet konkrete Handlungen konkreten Akteuren zu. Sie ist offen für Einwände und Korrekturen.

Theresa Landmann

 

Quellen zum vertiefenden Lesen:

https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/wp-content/uploads/2018/12/paedagogischer-umgang-mit-israelbezogenem-antisemitismus.pdf

https://www.bpb.de/themen/antisemitismus/dossier-antisemitismus/326790/israelbezogener-antisemitismus/

 

Anmerkungen:

1) www.zdf.de/nachrichten/panorama/documenta-rueckblick-antisemitismus-100.html

2) www.amnesty.de/informieren/fragen-und-antworten-zum-bericht-israels-apartheid-against-palestinians

3) www.deutschlandfunkkultur.de/weltkirchenrat-karlsruhe-100.htm

4) Vgl. www.antisemitismusbeauftragter.de/Webs/BAS/DE/bekaempfung-antisemitismus/ihra-definition/ihra-definition-node.html

5) Nathan Sharansky (2004): 3D test of Anti-Semitism: Demonization, double standards, delegitimization. In: Jewish Political Studies Review 16, S. 3-4.

6) Vgl. www.antisemitismusbeauftragter.de/Webs/BAS/DE/bekaempfung-antisemitismus/was-ist-antisemitismus/3d-regel/3d-regel-node.html.

Theresa Landmann

Stud. theol. Theresa Landmann war im Herbst 2023 Praktikantin an der Arbeitsstelle für Weltanschauungsfragen.

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Dieser Beitrag ist erschienen in Confessio 3/2023 ab Seite