Muslimischer Antisemitismus

Was die Hamas motiviert

Das Problem des Antisemitismus wird in der deutschen Bevölkerung vorwiegend in drei verschiedenen Milieus wahrgenommen und diskutiert: 

1) Rechts: Der Nationalsozialismus hatte den im deutschen Kaiserreich und der Weimarer Republik ohnehin stark verankerten Antisemitismus zur Staatsdoktrin erhoben. In der Folge ist er auch fundamentaler Bestandteil des Rechtsextremismus und dort stark vertreten.

2) Links: Auch in linken Milieus gibt es mitunter einen erschreckend starken Antisemitismus – hier vor allem in seiner sekundären Form als israelbezogener Antisemitismus. Er speist sich aus einer starken Identifikation mit dem „Freiheitskampf des palästinensischen Volkes“, wobei Israel als mit den kapitalistischen USA verbündeter Aggressor dargestellt wird. Auf dieser Linie lag u.a. die Propaganda der DDR-Führung.

3) Muslimisch: Auch unter Muslimen gibt es einen nicht zu übersehenden Anteil von Antisemitismus. In der polizeilichen Statistik ist er (wie der von Links) oft unterrepräsentiert, weil entsprechende Taten automatisch der Rubrik „Rechtsextrem“ zugeordnet wurden. Bereits 2017 hingegen äußerten jüdische Befragte einer Studie der Universität Bielefeld ein gegenteiliges Bild. In deren Wahrnehmung überwogen linker und noch viel mehr der muslimische Antisemitismus.1

Heikles Thema

Die Thematisierung von muslimischem Antisemitismus ist heikel. Sie führt geradezu notwendig in ein schwer zu lösendes Dilemma. Wird er offen angesprochen, könnte dies die ohnehin oft islamfeindliche Stimmung in der Bevölkerung weiter anheizen. Dies käme auch Rechtsextremisten gelegen, die sich gegenwärtig stark über eine undifferenzierte Ablehnung des Islam profilieren.

Wenn man dies vermeiden will, ist die Versuchung stark, das Problem weitestmöglich zu ignorieren und zu verschweigen. Allerdings wird es davon nicht gelöst. Außerdem ermöglicht eine solche Haltung dann wiederum den Rechtsextremisten, sich als die Einzigen darzustellen, die das Problem ansprechen, während die anderen es zu vertuschen suchen.

Deshalb ist es trotz der damit verbundenen Gefahr einer Instrumentalisierung von falscher Seite her geboten, möglichst sachlich, nüchtern und differenziert auch über das Problem eines muslimischen Antisemitismus zu reflektieren. Eine solche Behandlung sollte aber eben ohne unzulässige Verallgemeinerungen arbeiten und daraus keine Pauschalablehnung von Muslimen oder dem Islam zu konstruieren suchen. Idealerweise geschieht dies gemeinsam mit Muslimen, denen selbst an einer Aufarbeitung dieser Zusammenhänge gelegen ist. 

Charakteristik

Muslimischer bzw. islamischer Antisemitismus ist teilweise identisch mit dem klassischen europäischen Antisemitismus, zum anderen Teil aber auch davon unterschieden und spezifisch in seiner Begründung. Dies hängt daran, weil er sich aus unterschiedlichen Quellen speist, die – je nach Zeit und Milieu – in verschiedenem Gewicht in die Mischung einfließen. Grundsätzlich beruht er auf drei Säulen: 

  • a) religiösem Antijudaismus
  • b) politischem Antizionismus
  • c) ideologischem Antisemitismus

 

Religiöser Antijudaismus

Ähnlich wie im Christentum gibt es auch im Islam eine religiös begründete Ablehnung des Judentums – allerdings mit ganz anderer Herleitung. Die christliche Begründung, dass die Juden Jesus nicht als Sohn Gottes ansehen und für seine Kreuzigung verantwortlich seien, wird im Islam gerade nicht geteilt – ist man dort doch ebenso der Meinung dass Jesus „nur“ ein Prophet gewesen und darüber hinaus nicht einmal tatsächlich gekreuzigt worden sei. Allerdings enthält die islamische Überlieferung eigene Konfliktgeschichten mit einzelnen der in Medina ansässigen jüdischen Stämme. In deren Folge gibt es eine Reihe von Koranversen, die kritisch-ablehnend gegenüber Juden sind. Dies hat dann die islamische Tradition mit geprägt. 

Jedoch ist festzustellen, dass es über Jahrhunderte keine grundlegende Feindschaft zwischen Muslimen und Juden gegeben hat. Juden waren in islamisch regierten Ländern ebenso wie die Christen im Status der Schutzbefohlenen (Dhimmi). Sie sind als Schriftbesitzer und Monotheisten höher geachtet als die „Polytheisten“. Durch die Ähnlichkeit von Halal und koscherem Essen ist es für Muslime möglich, mit Juden Tischgemeinschaft zu halten und es ist traditionell Muslimen erlaubt, jüdische Frauen zu heiraten. Abgesehen von Einzelfällen sind über Jahrhunderte keine schweren Pogrome gegen Juden im islamischen Bereich bekannt geworden. 

Politischer Antizionismus

Zentraler Motor antijüdischer Einstellungen unter Muslimen ist gegenwärtig der Nahostkonflikt. Der Zuzug von Juden aus allen Teilen der Welt im Rahmen der zionistischen Bewegung, die sich in Israel eine neue Heimstatt aufgebaut haben, brachte unvermeidlich Konflikte mit der bisher dort ansässigen palästinensischen Bevölkerung mit sich. Die Vermittlungsbemühungen der Vereinten Nationen waren nur teilweise von Erfolg gekrönt. 

Der Nahostkonflikt ist komplex und kann hier nicht ansatzweise nachgezeichnet werden. Im Endeffekt ist eine lange Reihe gegenseitiger Verletzungen zu beklagen. Palästinensische Attentäter und Raketenbeschuss haben israelische Bürgerinnen und Bürger getötet, der Staat Israel hat darauf mit ausgrenzender Härte und mancher Diskriminierung für Palästinenser reagiert. Dies wiederum motivierte von neuem Attentäter und verschaffte islamistischen Organisationen wie Hamas in Gaza oder Hisbollah im Libanon ideologischen Auftrieb. Versuche zum Frieden waren zahlreich – sind aber immer wieder von Hardlinern torpediert worden. 

Von entscheidender Bedeutung für das Scheitern der Bemühungen um Verständigung ist dabei der dritte Faktor.

Ideologischer Antisemitismus

Der Nahostkonflikt ist in seiner Genese, in seiner Unversöhnlichkeit und der gegenwärtigen Bedeutung für Muslime schwer zu verstehen, wenn nicht dessen wesentliche Triebfeder im ideologischen Antisemitismus ausreichend gewichtet wird. 

Dieser ist nun wiederum im Kern gar nichts originär muslimisches. Er ist ein Export des europäischen, christlich geprägten Antisemitismus des 19. Jahrhunderts in den Nahen Osten, der dabei noch eine verschwörungsideologische Aufladung erfahren hat. Dort wurde er von Ideologen gezielt mit den vorhandenen Anknüpfungspunkten aus der islamischen Überlieferung verbunden. Das brachte den Effekt, dass dieses historisch relativ neue Phänomen sich für heutige Muslime anfühlt, als sei dies „normal“ und schon immer so gewesen. Nicht wenige meinen, die „Erbfeindschaft“ zum Judentum gehöre wesenhaft zum Islam wie Gebet und Minarett. Das stimmt aber nicht. Es ist im wesentlichen unmittelbares Ergebnis der gezielten nationalsozialisitischen Agitation im Nahen Osten.

Ritualmordlegende

Zur unmittelbaren Vorgeschichte gehört die sogenannte Damaskus-Affäre von 1840. In ihr wurde der klassische mittelalterliche christlich-antisemitische Topos des angeblichen jüdischen Ritualmordes in die islamische Welt übertragen. Ein französischer Mönch war verschwunden. Die christliche Minderheit streute die Behauptung, die Juden hätten ihn ermordet, weil sie dessen Blut für ihr bevorstehendes Pessachfest benötigen würden. Es gab Durchsuchungen im jüdischen Viertel – natürlich ergebnislos, aber die These war in der Welt. Oft angestachelt durch die jeweiligen christlichen Minderheiten kam es zu antijüdischen Diffamierungen und Ausschreitungen in weiten Teilen des osmanischen Reiches. Parallel dazu entstanden in dieser Zeit Übersetzungen westlicher antisemitischer Schriften ins Arabische, wo sie allmählich Verbreitung erlangten.

Nazipropaganda

Durchschlagenden Effekt hatte das europäische Schrifttum allein aber noch nicht. Dieser war der direkten Propaganda vorbehalten, die in den 1930er Jahren von Deutschland aus den Nahen Osten erreichte. Wesentlich war der Pakt von Hitler mit dem Mufti von Jerusalem und Führer der palästinensischen Nationalbewegung, Amin al-Husseini (1895-1974). Dessen Aufgabe bestand darin, Araber gegen den jüdischen Teilstaat zu mobilisieren, der 1937 im Rahmen des ersten Teilungsplanes von Palästina vorgesehen war. Außerdem ging es darum, die nationalsozialistische Idee der Judenvernichtung auf den arabischen Raum auszuweiten. Eine reine Übertragung des rassistischen Antisemitismus gelang nicht so einfach, weil biologistisch-rassistische Argumente bei den Muslimen wenig Resonanz auslösten. Ganz anders war es aber bei al-Husseinis Versuch, den westlichen Antisemitismus mit dem Antijudaismus der islamischen Überlieferung zu verbinden. Seine Schrift „Islam – Judentum. Aufruf des Großmufti an die Islamische Welt im Jahre 1937“ gilt als das erste Dokument eines dezidiert islamischen Antisemitismus. Darin werden die antijüdischen Aussagen des Koran mit den klassischen Unterstellungen des europäischen Antisemitismus verbunden. Juden wird unterstellt, sie seien zugleich reiche Geschäftsleute und gefährliche Parasiten. Die These einer ewigen Feindschaft zwischen Juden und Muslimen wird erstmalig aufgestellt und Juden zu wesenhaften Feinden des Islam erklärt. Ihnen wird eine über Jahrhunderte unveränderte bösartige Natur unterstellt. Diese könne nicht gebessert werden. Also bliebe nur Vertreibung und Vernichtung. 

Sender Zeesen

https://youtube.com/watch?v=wFnY8rq0xEwAus dem kleinen brandenburgischen Ort Zeesen (bei Königs-Wusterhausen) sendete ein Radiosender auf Kurzwelle 6 Jahre lang – von 1939-1945 jeden Abend ein professionell gestaltetes Programm auf arabisch, persisch und türkisch. Die Orient-Redaktion bestand aus ca. 80 Personen, die intensiv daran arbeiteten, den europäischen Judenhass in die arabische Welt zu übersetzen.2 Deren sorgfältige Programmgestaltung mit Koranrezitationen und passender Musik sprach die Hörer nicht als Araber, sondern als Muslime an. Der Sender hatte eine enorme Popularität und führte zu einer massenhaften Verbreitung des Judenhasses in der arabischen Welt. Das Bild der Juden wurde davon nachhaltig verschlechtert, eine antijüdische Lesart der Koran popularisiert, Weltverschwörungsmythen verbreitet und Auslöschungsphantasien gegen das Judentum propagiert.3

Muslimbrüder

Als 1928 in Ägypten die Muslimbruderschaft gegründet wurde, geschah auch dies mit Unterstützung und Finanzhilfen der nationalsozialistischen Bewegung in Deutschland. Die Muslimbrüder wurden eine einflussreiche Massenbewegung und wichtiger Träger des islamischen Antisemitismus in der arabischen Welt. So mobilisierten sie auch mit antisemitischen Argumenten 1947 gegen den Teilungsplan der Vereinten Nationen für Palästina. 

Ideologische Führungsgestalt der Muslimbrüder war Sayyid Qutb (1906-1966). Er veröffentlichte einen Essay: „Unser Kampf mit den Juden“. Darin verbindet er die klassischen europäischen antisemitischen Zuschreibungen mit dem Konstrukt der „Protokolle der Weisen von Zion“ und antijüdischen Koranstellen. Qutb postuliert einen „ewigen Krieg der Juden gegen den Islam“. Dieser Text wurde in der islamischen Welt vielfach verbreitet. Ähnlich äußerten sich auch andere einflussreiche Prediger der Muslimbrüder wie z.B. Yusuf Al-Qardawi (1926-2022). Wenn die Hamas jahrzehntelang zum Terror gegen Israel mobilisiert, dann stehen dahinter nicht nur Reaktionen auf erlittenes Unrecht, sondern vor allem eine solche muslimisch adaptierte und verschwörungsideologisch aufgeladene Form des europäischen Antisemitismus. 

Der Antisemitismusexperte Matthias Küntzel resümiert: „Die kurzzeitige Begegnung mit der NS-Ideologie hat die arabische Welt langfristig verändert. Bis heute werden hier die antijüdischen Passagen aus den Frühschriften des Islam unablässig wiederholt, bis heute wird der Weltenlauf mithilfe der „Protokolle der Weisen von Zion“ erklärt, bis heute betrachten führende Vertreter der Palästinensischen Autonomiebehörde jeden Versuch, das Verhältnis zu Israel zu normalisieren, als Hochverrat.“4

Was tun?

Das Problem eines islamischen Antisemitismus ist manifest. Es zu ignorieren, ist genauso wenig eine Lösung, wie es zur islamfeindlichen Propaganda zu missbrauchen. Wichtig ist eine präzise Beschreibung ohne Pauschalverurteilungen. Lösungsmöglichkeiten bestehen vor allem dort, wo die islamische Community selbst diese ihr historisch fremde Aufladung mit europäischem Antisemitismus thematisiert. Dazu gehört, die judenkritischen Koranverse zu kontextualisieren und in einem anderen Licht zu betrachten, als dies durch nationalsozialistische Ideologie eingeflüstert wurde. Entsprechende positive Gegenbeispiele sind zahlreich und sollten gesehen werden. In der von Muslimen gestalteten Sendung „Forum am Freitag“ im ZDF wurde in den letzten Jahren auch muslimischer Antisemitismus mehrfach thematisiert. Zu den dort genannten Handlungsmöglichkeiten gehört neben der Gedenkstättenarbeit vor allem interreligiöser Dialog und die Beförderung der direkten menschlichen Begegnung zwischen Juden und Muslimen. Davon verschwindet der Antisemitismus nicht einfach. Aber nichts kann erlernte Feindbilder mehr erschüttern, als die menschliche Begegnung mit dem angeblichen Feind. 

Harald Lamprecht


1 A.Zick u.a.: Jüdische Perspektiven auf Antisemitismus in Deutschland. Studienbericht für für den Expertenrat Antisemitismus, Uni Bielefeld 2017

2 https://www.deutschlandfunkkultur.de/nazi-propaganda-auf-arabisch-100.html

3 In der ZDF-Sendung „Die Anstalt“ vom 15.11.2022 (ab Min 31) wird dieser Zusammenhang anschaulich beleuchtet. youtube.com/watch?v=wFnY8rq0xEw

4 https://www.bpb.de/themen/antisemitismus/dossier-antisemitismus/307771/islamischer-antisemitismus/

 

Dr. Harald Lamprecht

ist Beauftragter für Weltanschauungs- und Sektenfragen der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens und Geschäftsführer des Evangelischen Bundes Sachsen.

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Dieser Beitrag ist erschienen in Confessio 3/2023 ab Seite 14