Jehovas Zeugen und die Bibelkunde

Einsichten aus einem Gespräch
Die Zeugen Jehovas zählen ohne Zweifel zu den bekanntesten religiösen Sondergemeinschaften in Deutschland. Wohl unerreicht dürfte der Grad an persönlicher Begegnung mit Anhängern dieser Gemeinschaft sein. Die Gründlichkeit, mit der die Zeugen Jehovas bei ihren Hausbesuchen an fast jeder fremden Wohnungstür klingeln, ist immer wieder verblüffend. Gesehen und gesprochen hat fast jeder schon einmal mit ihnen. Freilich - tiefer gehende Gespräche ergeben sich aus diesen Haustürbesuchen selten. Dafür ist die Absicht der Besuche zu stark auf die Übermittlung der eigenen Botschaft eingegrenzt. Darüber hinaus sorgt die Furcht vor gegenseitiger Überwachung der stets zu zweit agierenden Zeugen meist zuverlässig dafür, dass die Gespräche beim vorgegebenen Thema bleiben und nicht zu persönlich werden. Über die inneren Beweggründe und Probleme, die Menschen in die Gemeinschaft der Zeugen Jehovas hinein, aber auch wieder hinaus führen können, erfährt man dabei üblicherweise nichts.
So war es auch für die "Experten" der AG Religiöse Sondergemeinschaften des Evangelischen Bundes Sachsen, die sich schon viel mit den Zeugen Jehovas befasst hatten, sehr interessant und aufschlussreich, mit Frau E. ins Gespräch zu kommen, die vier Jahre ihres Lebens bei den Zeugen Jehovas verbracht hat. Einige Einsichten aus diesem Gespräch sollen im Folgenden mitgeteilt werden.

Warum Zeuge Jehovas?

Für die in der Arbeitsgemeinschaft versammelten Pfarrer war es gewiss die schmerzlichste Erkenntnis, dass Frau E., bevor sie sich den Zeugen Jehovas anschloss, ein aktives Mitglied ihrer Kirchgemeinde war und u. a. etliche Jahre im Kirchenvorstand mitgearbeitet hatte.
Was führt dazu, dass aktive Glieder unserer Gemeinden sich den Zeugen Jehovas zuwenden? Wie sich aus dem Gespräch ergab, waren es in diesem Fall waren es vor allem zwei Anliegen:
  • Der Wunsch nach tieferem Wissen über die Bibel
  • Die Sehnsucht nach mehr menschlicher Wärme und Geborgenheit.

Bibelkunde

In der Gemeinde von Frau E. gab es einen jungen engagierten Pfarrer, der sich sehr für die Not der Kinder in der dritten Welt einsetzte, aber es gab keinen Bibelkreis. Frau E. hatte aus Interesse mehrfach versucht, die Bibel zu lesen - von vorn bis hinten, wie man dies bei einem Buch üblicherweise tut. Obwohl sie bis zum Ende vorgedrungen ist, hat sie ohne Anleitung nicht viel davon mitgenommen und vieles bald wieder vergessen.
Als in dieser Situation zwei Frauen von den Zeugen Jehovas an der Haustür klingelten und mit ihr über den Sinn und den Zusammenhang zahlreicher Bibelstellen sprachen, war das ein so positives Erlebnis, dass sich Frau E. zu einem Bibelstudium bereiterklärte und dies auch in den folgenden Wochen absolvierte.
Dies führte zu einem engen Kontakt zu den Zeugen Jehovas, der Teilnahme an den Versammlungen im Königreichssaal und schließlich zum Kirchenaustritt und dem Bemühen um eine Taufe bei den Zeugen Jehovas.
Solch eine Lebensgeschichte - auch wenn sie nur ein Einzelfall sein sollte - stellt schwere Anfragen an unsere Gemeinden. Die Bibel als zentrale Urkunde des christlichen Glaubens hat mitunter zu wenig Raum. Interesse an der Bibel zu wecken, sollte zu den wichtigsten Aufgaben der Gemeinde gehören. Wenn solch ein Interesse bereits vorhanden ist, aber innerhalb der Gemeinde keinen Ort und keine Nahrung findet, dann ist dies schlimm.

Auslegungsgeschick

Andererseits muss auch gesehen werden, dass sich die Faszination der Bibelauslegung der Zeugen Jehovas keineswegs allein aus der Tatsache der Beschäftigung mit der Bibel ergibt. Überzeugend wirkt statt dessen oftmals das in sich geschlossene Weltbild der Wachtturmgesellschaft mit seiner dramatischen Apokalyptik. Oft gelingt es den Zeugen, durch geschicktes Suchen und Finden von Belegstellen eine scheinbar schlüssige Erklärung rätselhafter Bibelstellen vorzuweisen. Insbesondere die bildhafte und verschlüsselte Sprache der Johannesapokalypse scheint die allegorischen Deutungskünste geradezu anzuziehen. Aus dieser Erklärung der biblischen Rätsel folgt ein guter Teil der Attraktivität der Zeugen Jehovas für religiös suchende Menschen. Es ist nicht allein die Bedeutung der Bibel an sich, sondern der mit Überzeugung vorgetragene Anspruch, eine über jeden Zweifel erhabene gültige Auslegung zu besitzen und damit Gottes Wort authentisch interpretieren zu können.
Wirklich nach der biblischen Wahrheit suchende Zeugen spüren später aber nicht selten die Unstimmigkeiten der offiziellen Interpretation und geraten auf diese Weise mit der Organisation und ihrem Deutungsmonopol in Konflikt.

Geborgenheit und Fürsorge

Als Frau E. zum erstem Mal mit ihrer Familie eine "Versammlung" im Königreichssaal besuchte, schlug ihr dort eine solche Welle von Wärme und Herzlichkeit entgegen, dass sie sich sofort geborgen fühlte. In den Kirchen hätte sie immer nur gefroren. Die positive Aufnahme bei den Zeugen Jehovas stand im Kontrast zu einem offenbar fehlenden Interesse der Kirchengemeinde an ihr. In der Zeit ihres allmählichen Rückzugs aus dem Gemeindeleben hätte sich niemand nach ihr erkundigt.
Auch hier liegt ein bereits oft empfundenes und angemahntes Defizit in unserer Gemeindewirklichkeit vor. Die Pflege des Miteinander darf in ihrer Bedeutung nicht unterschätzt werden. Obwohl Frau E. später wußte, dass bei den Zeugen Jehovas ein besonderer Umgang mit neuen Interessenten zu den Verhaltensrichtlinien gehört, hat sie dies nicht so sehr gestört, wie die mangelnde Nachfrage ihrer alten Kirchengemeinde.
Allerdings ist an dieser Stelle auch eine Warnung auszusprechen. Eine zu Umfangreiche "Fürsorge" kann von manchen auch als beengend empfunden werden. Bei den Zeugen Jehovas wird diese Grenze oft überschritten. Für etliche ist es gerade ein Vorteil der "Volkskirche", dass jeder seinen eigenen Grad an Engagement und Beteiligung am Gemeindeleben frei bestimmen kann und nicht vor die Alternative "volle Hingabe" oder "Ausschluss" gestellt ist. Hier wird die bleibende Aufgabe deutlich, Mittel und Wege zu finden, um beiden Anliegen gerecht zu werden: einer guten Gemeinschaft mit Interesse füreinander und dennoch Respekt gegenüber den Entscheidungen der anderen.
(Confessio 2/2000, 6f.)

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Dieser Beitrag ist erschienen in Confessio 2/2000 ab Seite 06