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Spaltung der Gesellschaft

Wie getrennte Wirklichkeiten überwinden?

Schon fast inflationär ist in den letzten Wochen im Blick auf die Coronakrise von einer Spaltung der Gesellschaft die Rede bzw. dass diese vermieden werden solle. Das betrifft in gleicher Weise auch Kirchgemeinden, die gegen ihre innere Zerrissenheit ankämpfen müssen und in denen oft kontrovers darüber diskutiert wird.

Vielfalt als Normalität

Eigentlich ist die Rede von einer „Spaltung der Gesellschaft“ in den meisten Fällen unpassend. Das gilt jedenfalls dann, wenn sie suggeriert, dass der Normalzustand eine ungespaltene und somit geeinte Gesellschaft wäre. Das Gegenteil ist wahr. In jeder Menschengruppe treffen unterschiedliche Sichtweisen, Interessen, Vorlieben, religiöse Überzeugungen, politische Ansichten etc. aufeinander. Selbst die tatsächlich vorhandene Spaltung in „arm“ und „reich“ enthält unzählige Zwischenstufen und eben nicht nur diese beiden Pole. Diese normale Vielfalt der Positionen muss in einen Ausgleich gebracht werden. Dazu dienen die Instrumentarien der Demokratie: möglichst viele Menschen mit ihren je unterschiedlichen Vorstellungen an der Gestaltung des Miteinanders zu beteiligen. Auch das Neue Testament ist voll von Aufrufen, die legitime Vielfalt der Gaben und Sichtweisen wertzuschätzen. Es gibt viele Arbeiter im Weinberg, verschiedene Glieder am Leib, die unterschiedlich in Funktion und Herangehensweisen sind, aber doch gemeinsam zum Wohl des Ganzen wirken sollen. Das Ringen darum, dass diese Vielfalt auch zusammengehalten wird und nicht in lauter Einzelinteressen zerfällt, die gegeneinander arbeiten, ist eine ständige Aufgabe und gehört zum Normalzustand.

Populistische Vereinfachung

Die unreflektierte Rede von einer „Spaltung“ steht demgegenüber in der Gefahr, dieses komplexe Miteinander auf ein schlichtes duales Schema zu reduzieren. Da bleibt dann am Ende eine einfache Gegenüberstellung übrig: hier die einen – da die anderen. Das entspricht dann strukturell der im Populismus üblichen Reduktion der gesellschaftlichen Vielfalt auf ein „Wir“ gegen „die anderen“ – gegen „die da oben“, gegen „die Ausländer“ usw. Die Scharfzeichung der harten Kontraste hat immer die Tendenz, eine Verständigung zwischen beiden Gruppen zu erschweren, Brücken zwischen ihnen abzureißen und Feindbilder zu pflegen, was wiederum die Voraussetzung für eine militante Bekämpfung des Gegners ist.

Faktische Spaltung

Diese Überlegungen gilt es etwas im Hinterkopf zu behalten, wenn der Blick sich nun auf eine faktisch vorhandene tatsächliche Spaltung der Gesellschaft richtet, wie sie in der 4. Welle der Pandemie immer deutlicher zutage tritt: Geimpft oder ungeimpft. Das ist nun unbezweifelbar eine harte Unterscheidung von zwei Zuständen, die auch Konsequenzen hat. Impfstoffe standen in ausreichender Anzahl zur Verfügung. Jede(r) hatte die Gelegenheit, sich Impfen zu lassen. Die Impfzentren wurden geschlossen, weil kaum noch jemand kam. Darum liegt es nahe, diese Unterscheidung auch als Indikator für die Zuordnung zu jeweils einer von zwei Bevölkerungsgruppen heranzuziehen:

  1. Die Vernünftigen: Der eine (weitaus größere) Teil der Bevölkerung respektiert im Wesentlichen die wissenschaftlichen Institutionen, die Aussagen der Ärzteschaft und insbesondere des Robert-Koch-Instituts sowie die Empfehlungen der ständigen Impfkommission (STIKO). Diese Menschen haben oder wollen sich gegen das Coronavirus impfen lassen, tragen soweit nötig ohne großen Protest ihre Maske im Bus, beim Einkaufen oder in der Schule und hoffen, dass die Pandemie bald vorbeigehen möge.
  2. Die Solidaritätsverweigerer: Der andere (kleinere, aber wesentlich lautere) Teil der Bevölkerung verweigert sich alldem. Die Aussagen des RKI werden in Zweifel gezogen, die Pandemie gilt ihnen als erfunden, das Virus als relativ ungefährlich, die Gegenmaßnahmen folglich überzogen, die Regierung als Teil einer breit angelegten Verschwörung, die öffentlichen Medien als manipuliert usw. Deren Plan sei es, die Bevölkerung zu versklaven oder zu dezimieren oder beides zusammen.

Getrennte Wirklichkeiten

Für den Kern der jeweiligen Bereiche gelten komplett getrennte Wirklichkeiten. Es ist ein extremes Kontrastprogramm. Auf der einen Seite stehen Berichte von überarbeiteten und gestressten Intensivmedizinern, die um das Leben der Covid19-Patienten kämpfen und dringende Aufforderungen, unnötige Kontakte zu vermeiden. Die andere Seite illustriert z.B. ein Video einer Polonaise in Bautzen ohne Maske und Abstand, welche die Beteiligten noch stolz als „Ostsachsens größte Infektionskette“ bezeichnen und über die Gefahr der Übertragung von Läusen witzeln. Anführer ist Marcus Fuchs von „Eltern stehen auf“ in Bautzen und ehemaliger Bundestagskandidat für Querdenken Dresden (team-marcus.de). Hier haben sich Menschen aus der Solidargemeinschaft verabschiedet. Allerdings empfinden sie es nicht so. In der Binnenperspektive sind sie selbst diejenigen, die sich selbstlos in den Kampf gegen übermächtige Verschwörungseliten begeben.   

Ähnliche Kontraste zeigen sich in den relativ säuberlich getrennten Bubbles der sozialen Medien, in denen beide Gruppen oft nur Verachtung über die jeweils andere zeigen.

 

Gründe

Bei der Suche nach Gründen für diese Realitätsabkehr sind mindestens drei mögliche Motivationslagen zu unterscheiden.

a) Verführte: Individuelle Nachteilsvermeidung

Viele Menschen sind nachvollziehbar von der Pandemie genervt. Für sie ist der Gedanke enorm attraktiv, dass das Virus eigentlich ungefährlich und folglich Masken und alle Beschränkungen hinfällig wären. Dann wird aber Infektionsschutz als Begründung für staatliche Gegenmaßnahmen unglaubwürdig. Deshalb führt diese Illusion nahezu zwangsläufig ins Verschwörungsdenken. Dieses wiederum verhindert wirkungsvoll den Abgleich mit der Realität.

b) Empörungsunternehmer: Persönliche Vorteilsgewinnung

Die Anführer der Bewegung ziehen aus ihr nicht unerhebliche persönliche Vorteile. Neben der Aufwertung der eigenen Persönlichkeit durch die Anhängerschaft gibt es für einige auch erheblichen finanziellen Gewinn. Netzpolitik.org berichtete bereits vor einem Jahr von den fragwürdigen Spenden-Tricks von Michael Ballweg, Bodo Schiffmann und Ralf Ludwig. Dabei geht es um hunderttausende Euro. Auch Anwalt Dr. Reiner Fuellmich sammelte Geld für eine angebliche Sammelklage gegen Christian Drosten. Die Rede ist von ca. eine Million Euro. Das könnte auch ein Interesse erklären, dass die Erregung nicht so schnell abflaut.

c) Rechtsextreme: Politische Einflussnahme

Rechtspopulisten und Rechtsextreme aller Richtungen von AfD bis zu Freien Sachsen und dem III. Weg haben sich voll auf die Impfgegner-Schiene begeben. Dabei gehörten weder Gesundheitspolitik noch individuelle Freiheitsrechte bislang zu deren Markenkern. Ihnen geht es vor allem um die Destabilisierung des demokratischen Systems. Getreu dem erklärten Motto „Je schlechter es Deutschland geht, desto besser für die AfD“ (so AfD-Pressesprecher Christian Lüth im Februar 2020) wird bewusst und aktiv die Krise angesteuert. Jede Notstandsgesetzgebung spielt der extremen Rechte direkt in die Hände, weil sie demokratische Gepflogenheiten außer Kraft setzt und Beispiele liefert, die sie später selbst benutzen können, um Demokratie auszuhebeln.

Spaltervorwurf

Neu ist, dass der Vorwurf, die Gesellschaft zu spalten, immer lauter von denen zu hören ist, die selbst mit ihrem Verhalten und ihrer Propaganda die Pandemie am Laufen halten. Medizinisch zutiefst sinnvolle Forderungen nach Kontaktreduktion besonders für Mensch ohne Impfschutz (2G) werden als „Spaltung der Gesellschaft“ diskreditiert. Damit ist eine moralische Schuldumkehr verbunden. Diejenigen, die Solidarität und Rücksicht einfordern, gelten jetzt als die „Spalter“.

Zwischentöne

Auch hier gibt es Zwischentöne. Die Wirklichkeit ist nie nur Schwarz/Weiß – auch hier nicht. Etliche der Ungeimpften sind keine überzeugten Impfgegner. Sie sind lediglich verunsichert durch widersprüchliche oder z.T. auch irreführende Berichte über die Impfungen. Einzelne Argumente gegen die Impfung klingen zunächst logisch – auch wenn sie inhaltlich längst widerlegt sind. Manche sind auch von skeptischen Hausärzten (auch so etwas gibt es) von ihrer Impfung abgehalten worden. Manche sind keine Impfgegner, sondern Tagträumer und haben den Ernst der Lage nicht begriffen. Ihnen hätten vielleicht weitere niedrigschwelligere Impfangebote geholfen, am Arbeitsplatz oder in ihrem Nahbereich.

Es gibt im Lager der Geimpften auch heimlich Geimpfte, die für sich persönlich den Schutz der Impfung wollen, aber in ihrem Umfeld nicht dazu stehen können und z.T. öffentlich dagegen polemisieren. Es gibt Menschen, die sich aufgrund des gesellschaftlichen Druckes (2G-Regel) haben impfen lassen, ohne davon vollständig überzeugt zu sein. Es gibt nur auf dem Papier geimpfte, die ihren Impfpass gefälscht haben (und die Zahl der „Impfdurchbrüche“ in die Höhe treiben).

Die Regierung befindet sich in einem Schlingerkurs zwischen beiden Lagern. Einerseits organisiert sie Impfungen und wirbt dafür. Zugleich will sie aber den Pandemieleugnern nicht zu sehr auf die Füße treten. Immerhin steckt dort Wählerpotenzial, wenngleich dessen Größenordnung durch deren lautes Auftreten wohl überschätzt wird. So scheut und verschleppt die Regierung wirksame Maßnahmen, diskutiert die Aufhebung der Notlage und schafft die Maskenpflicht an Schulen ab, während die Inzidenzen bereits durch die Decke gehen und die Krankenhäuser Alarm schlagen.

Zum Umgang

Wie sollte man nun mit dieser Situation umgehen? Ganz analog zu den Empfehlungen zum Umgang mit rechtem Nationalismus gilt auch hier eine Unterscheidung von zwei Ebenen mit unterschiedlichen Linien und Schwerpunkten:

a) In der öffentlichen Kommunikation, bei Behörden und Kirchgemeinden, in Gremien, Verlautbarungen und Institutionen braucht es eine möglichst große Klarheit in der eigenen Position. Diese Position sollte an den folgenden Grundwerten orientiert sein:

1. Menschenwürde: Schutz der Menschenwürde ist oberster Verfassungsgrundsatz in Deutschland und für Christen Konkretion der Gottes- und Nächstenliebe. Rücksichtnahme und Solidarität mit Schwächeren und Bedürftigen sind unmittelbare Folge dieser Grundeinstellung und Pfeiler zivilisierter Mitmenschlichkeit.

2. Wissenschaftlichkeit: Sofern die Aussagen innerweltliche Bereiche betreffen, ist die Menschheit stets gut beraten, der kritischen Vernunft zu folgen. Wissenschaftliche Methoden sind darauf ausgerichtet, Irrtümer und Fehler zu finden, um nicht Wunschdenken oder Betrug zu erliegen. Sie sind offen für neue Erkenntnisse und Modelle, die die Fakten besser erklären können. Die maßgeblichen Erfolge in Medizin und Technologie verdanken wir diesen Herangehensweisen.

Das öffentliche Handeln sollte erkennbar an diesen beiden Prinzipien ausgerichtet sein und das auch erklären können. Dazu gehören:

  • Sachliche Begründung der eigenen Position,
  • nötigenfalls auch scharfe, aber immer inhaltlich begründete Kritik an gegenläufigen Behauptungen und Konzepten,
  • dabei Verzicht auf Polemik und Feindbilder.

Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung erwartet ein solches Verhalten von öffentlichen Repräsentanten.

b) Im persönlichen Gegenüber ist es möglich und ggf. auch nötig, stärker auf die Befindlichkeiten des Gesprächspartners einzugehen, als dies in der öffentlichen Kommunikation sinnvoll ist. Hier sollte das Bemühen um gegenseitiges Verstehen im Vordergrund stehen: Warum denkt und fühlt die andere Person so, wie sie es tut? Nur auf der Basis dieser Empathie als Vorleistung lässt sich ein sachbezogenes Gespräch führen, das auf möglicherweise auch berechtigte Ängste und Sorgen eingeht und falsche Lösungsansätze davon unterscheidet.

Verwechslungen sind gefährlich:

  • Die für das persönliche Gespräch nötige Empathie und Flexibilität auf die Ebene der öffentlichen Stellungnahmen zu übertragen, wäre fatal, weil dies die nötige klare Positionierung aufweicht.
  • Die für das öffentliche Auftreten nötige klare Abgrenzung in den persönlichen Bereich zu übertragen ist ebenso problematisch, weil sie Gespräch und Austausch blockiert, Menschen in ihrer Blase gefangen hält, tiefer in die Extreme hinein treibt und den Rückweg versperrt.

Leider passiert die Verwechslung beider Ebenen in der Praxis sehr oft. Dann werden Stellungnahmen weichgespült und nötige Maßnahmen verhindert, weil man ja im Gespräch bleiben will. Oder es werden Menschen ausgegrenzt und dem „feindlichen“ Lager zugeschrieben, die sich nicht eindeutig genug auf der „richtigen“ Seite positioniert haben und auf diese Weise der Graben vertieft. Die Beachtung dieser Ebenen hingegen kann ebenso wie der Blick auf die Graustufen und immer vorhandenen Zwischentöne helfen, die „Spaltung der Gesellschaft“ in ein Management der legitimen Vielfalt zu überführen.

Dr. Harald Lamprecht

ist Beauftragter für Weltanschauungs- und Sektenfragen der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens und Geschäftsführer des Evangelischen Bundes Sachsen.

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Dieser Beitrag ist erschienen in Confessio 2/2021 ab Seite 12