Wegmarken der Verständigung

Texte für ein neues Verhältnis zwischen Christen und Juden

Selisberger Thesen (1947)

Bei einer internationalen Konferenz, die vom 30. Juli bis 5. August 1947 in Seelisberg (Schweiz) stattfand, wurden 10 Thesen zu der Frage, wie in der christlichen Predigt und Katechese das Thema „Juden“ zu behandeln sei, verabschiedet. Aus dem Treffen ging das International Council of Christians and Jews hervor.

1. Es ist hervorzuheben, daß ein und derselbe Gott durch das Alte und das Neue Testament zu uns allen spricht.

2. Es ist hervorzuheben, daß Jesus von einer jüdischen Mutter aus dem Geschlechte Davids und dem Volke Israel geboren wurde, und daß seine ewige Liebe und Vergebung sein eigenes Volk und die ganze Welt umfaßt.

3. Es ist hervorzuheben, daß die ersten Jünger, die Apostel und die ersten Märtyrer Juden waren.

4. Es ist hervorzuheben, daß das höchste Gebot für die Christenheit, die Liebe zu Gott und zum Nächsten, schon im Alten Testament verkündigt, von Jesus bestätigt, für beide, Christen und Juden, gleich bindend ist, und zwar in allen menschlichen Beziehungen und ohne jede Ausnahme.

5. Es ist zu vermeiden, daß das biblische und nachbiblische Judentum herabgesetzt wird, um dadurch das Christentum zu erhöhen.

6. Es ist zu vermeiden, das Wort „Juden“ in der ausschließlichen Bedeutung „Feinde Jesu“ zu gebrauchen, oder auch die Worte „die Feinde Jesu“, um damit das ganze jüdische Volk zu bezeichnen.

7. Es ist zu vermeiden, die Passionsgeschichte so darzustellen, als ob alle Juden oder die Juden allein mit dem Odium der Tötung Jesu belastet seien. Tatsächlich waren es nicht alle Juden, welche den Tod Jesu gefordert haben. Nicht die Juden allein sind dafür verantwortlich, denn das Kreuz, das uns alle rettet, offenbart uns, daß Christus für unser aller Sünden gestorben ist. Es ist allen christlichen Eltern und Lehrern die schwere Verantwortung vor Augen zu stellen, die sie übernehmen, wenn sie die Passionsgeschichte in einer oberflächlichen Art darstellen. Dadurch laufen sie Gefahr, eine Abneigung in das Bewußtsein ihrer Kinder oder Zuhörer zu pflanzen, sei es gewollt oder ungewollt. Aus psychologischen Gründen kann in einem einfachen Gemüt, das durch leidenschaftliche Liebe und Mitgefühl zum gekreuzigten Erlöser bewegt wird, der natürliche Abscheu gegen die Verfolger Jesu sich leicht in einen unterschiedslosen Haß gegen alle Juden aller Zeiten, auch gegen diejenigen unserer Zeit, verwandeln.

8. Es ist zu vermeiden, daß die Verfluchung in der Heiligen Schrift oder das Geschrei einer rasenden Volksmenge: „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder“ behandelt wird, ohne daran zu erinnern, daß dieser Schrei die Worte unseres Herrn nicht aufzuwiegen vermag: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“, Worte, die unendlich mehr Gewicht haben.

9. Es ist zu vermeiden, daß der gottlosen Meinung Vorschub geleistet wird, wonach das jüdische Volk verworfen, verflucht und für ein ständiges Leiden bestimmt sei.

10. Es ist zu vermeiden, die Tatsache unerwähnt zu lassen, daß die ersten Mitglieder der Kirche Juden waren.

https://dokumente-kirchen-judentum.de/ops/index.php/dkj/preprint/view/658/821

 

Dabru Emet (2000)

Im September 2000 wurde die Stellungnahme von 170 Personen des jüdischen Lebens in den USA mit dem Titel „Dabru Emet“ („Redet Wahrheit“) veröffentlicht. Der Text versteht sich als jüdische Antwort auf die veränderte kirchliche Positionierung.

[…] Juden und Christen beten den gleichen Gott an. Vor dem Aufstieg des Christentums waren es allein die Juden, die den Gott Israels anbeteten. Aber auch Christen beten den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, den Schöpfer von Himmel und Erde an. Wenngleich der christliche Glaube für Juden keine annehm-bare Alternative darstellt, freuen wir uns als jüdische Theologen darüber, daß Abermillionen von Menschen durch das Christentum in eine Beziehung zum Gott Israels getreten sind.

Juden und Christen stützen sich auf das gleiche Buch – die Bibel (das die Juden „Tenach“ und die Christen das „Alte Testament“ nennen). In ihm suchen wir nach religiöser Orientierung, spiritueller Bereicherung und Gemeinschaftssinn und ziehen aus ihm ähnliche Lehren: […] Gleichwohl interpretieren Juden und Christen die Bibel in vielen Punkten unterschiedlich. Diese Unterschiede müssen respektiert werden.

Christen respektieren den Anspruch des jüdischen Volkes auf das Land Israel. Für Juden stellt die Wiedererrichtung des Staates Israel im gelobten Land das bedeutendste Ereignis seit dem Holocaust dar. Als Angehörige einer biblisch begründeten Religion sind Christen dafür dankbar, daß Israel den Juden als der leibhaftigen Verkörperung des Bundes zwischen ihnen und Gott versprochen und gegeben wurde. […]

Juden und Christen anerkennen die moralischen Prinzipien der Torah. Im Zentrum der moralischen Prinzipien der Torah steht die unveräußerliche Heiligkeit und Würde eines jeden Menschen. Wir alle wurden nach dem Bilde Gottes geschaffen. Diese uns gemeinsame moralische Haltung kann die Grundlage für ein verbessertes Verhältnis zwischen unseren beiden Gemeinschaften sein. […]

Der Nazismus war kein christliches Phänomen. Ohne die lange Geschichte christlichen Antijudaismus und christlicher Gewalt gegen Juden hätte die nationalsozialistische Ideologie jedoch keinen Bestand finden und nicht verwirklicht werden können. […] Dennoch war der Nationalsozialismus selbst kein zwangsläufiges Produkt des Christentums. […] Mit Dankbarkeit gedenken wir jener Christen, die während der nationalsozialistischen Herrschaft ihr Leben riskiert oder geopfert haben, um Juden zu retten. […]

Der nach menschlichem Ermessen unüberwindbare Unterschied zwischen Juden und Christen wird nicht eher ausgeräumt werden, bis Gott die gesamte Welt erlöst haben wird, wie es die Schriften prophezeien. Christen wissen von Gott und dienen ihm durch Jesus Christus und die christliche Tradition. Juden wissen und dienen Gott durch die Torah und die jüdische Tradition. […] Weder Juden noch Christen sollten dazu genötigt werden, die Lehre der jeweils anderen Gemeinschaft anzunehmen.

Ein erneuertes Verhältnis zwischen Juden und Christen wird die jüdische Praxis nicht schwächen. Ein verbessertes Verhältnis wird die von Juden zu Recht befürchtete kulturelle und religiöse Assimilation nicht beschleunigen. […]

Juden und Christen müssen sich gemeinsam für Gerechtigkeit und Frieden einsetzen. […] Die Vision der Propheten Israels ist uns dabei das gemeinsame Leitbild.

https://dokumente-kirchen-judentum.de/ops/index.php/dkj/preprint/view/561/699

 

Dokumente Kirche und Judentum

Diese und viele weitere Texte sind in dem Projekt http://dokiju.de gesammelt und online leicht zugänglich gemacht worden.

 

Dr. Harald Lamprecht

ist Beauftragter für Weltanschauungs- und Sektenfragen der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens und Geschäftsführer des Evangelischen Bundes Sachsen.

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Dieser Beitrag ist erschienen in Confessio 1/2025 ab Seite 14