Was lässt der Ablass ab?

Fragen an den neuen päpstlichen Ablass zum Paulusjahr

Anlass für den Thesenanschlag Luthers, der als Beginn der Reformation gilt, waren die Missbräuche im Zusammenhang mit dem Ablass. Was zunächst lediglich als Erleichterung kirchlicher Bußstrafen gedacht war, hatte in Zeiten knapper Kassen eine Eigendynamik bekommen. Die theologische Unterscheidung zwischen der Sündenschuld, die durch Gott in der Buße vergeben wird, und der Sündenstrafe, die von der Kirche zur Wiedergutmachung auferlegt wird und im Ablass verringert werden kann, wurde von den Ablasspredigern selbst nicht mehr beibehalten. Es entstand der weithin unwidersprochene Eindruck, die göttliche Vergebung ließe sich erkaufen bzw. müsse erkauft werden. Die fatalen seelsorgerlichen Folgen bei Menschen, die meinten, nun für ihre Schuld bezahlt zu haben und keiner Buße mehr zu bedürfen, haben Luther zur Abfassung seiner 95 Thesen gegen den Ablass motiviert.

Neue Ablässe

Wer meint, das Thema Ablass sei seitdem erledigt, der irrt. Auch in jüngster Zeit wurden immer wieder von päpstlicher Seite „vollkommene Ablässe“ ausgerufen. Zuletzt geschah dies im Jahr 2000 durch Johannes Paul II. anlässlich des Heiligen Jahres 2000 und durch Papst Benedikt XVI. anlässlich des Weltjugendtages in Köln. Nun wurde aus Anlass des Paulusjahres[9] erneut ein Ablass verkündet. Angesichts der Tatsache, dass Joseph Ratzinger als Präfekt der Glaubenskongregation entscheidend am Zustandekommen der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre beteiligt war und deren theologische Implikationen vermutlich verstanden hat, ist dies ein erstaunlicher Vorgang.

Die heutige römisch-katholische Theologie will den Ablass von freilich von den früheren groben Missbräuchen und Missverständnissen gereinigt wissen. Dialogorientierte Vertreter interpretieren ihn als Hilfe für Menschen, die mit unbewältigten Folgen ihrer Sünden kämpfen. Der Ablass soll helfen, das, was nach großen Fehlern auch nach der Vergebung der Schuld noch an Problemen nachhängt, aufzuarbeiten. Er wird auch nicht mehr verkauft, sondern durch bestimmte Frömmigkeitsübungen erworben, wozu in der Regel Pilgerfahrten an vom Papst festgelegte Orte oder zumindest bestimmte Gebete und Rituale gehören, die in der jeweiligen Ausschreibung des Ablasses festgelegt werden.

Das, was in dieser Weise als neues Anliegen des Ablasses beschrieben wird, ist durchaus nachvollziehbar und sinnvoll, aber es spricht gerade gegen die Ablasspraxis. Es stellt sich die Frage, in wieweit der Ablass dafür ein taugliches Mittel sein kann. Wenn nach der Vergebung der Sünde im Leben eine Folge dieser Sünde wirklich aufzuarbeiten ist, dann kann diese Aufarbeitung doch gerade nicht „abgelassen“ werden. Dann muss sie geschehen – sicher mit Hilfe und Unterstützung – aber doch nicht durch völlig sachfremde Ersatzleistungen gerade vermieden werden. Dies führt unmittelbar zu der zentralen Frage: Was ist es, das im Ablass nach heutiger Lehre eigentlich abgelassen wird?

Der Catholica-Beauftragte der VELKD, Landesbischof Dr. Friedrich Weber zitiert in einem Beitrag zu diesem Thema ausführlich den katholischen Theologen Otto Hermann Pesch, der selbst kritische Fragen an den Ablass stellt: „Das Wort ‚Ablass‘ und einige rudimentäre Sätze, die an alte Vorstellungen erinnern, hängen sachlich in der Luft. Und diese ‚Ablässe‘, von denen kaum noch zu sagen ist, was sie genau bedeuten, sind nun doch noch an bestimmte Bedingungen gebunden, die niemand anders als der Papst festlegt: Gebet nach ‚seiner Meinung‘, und das nur innerhalb ganz bestimmter Zeiten und an festgelegten Orten. Das ist der Punkt, wo man auch gegenüber der ‚gereinigten‘ und ganz ‚personalistischen‘ Ablass-Lehre an die Fragen Luthers erinnern muss. Kann die Kirche mehr nachlassen als ihre eigenen Disziplinarstrafen? Kann sie wie immer verstandene – göttliche Sündenstrafen erlassen? Kann sie dies sogar jenseits der Todesgrenze? … Kann somit der Papst letztlich bestimmen, wer und in welche Ausmaß der Gnade Gottes teilhaftig wird und wer nicht?“[10]

Wenn die Aufarbeitung der Sündenfolgen in der Gemeinschaft der Kirche hilfreich und wichtig ist, warum dann nur zu bestimmten Zeiten? Warum nur an bestimmten Orten? Warum nur mit bestimmten Gebeten?

Die Versuche zur Neuinterpretation des Ablass sind im Ansatz her zu begrüßen, aber sie sind unbefriedigend und hinken sehr, weil die Praxis mehr als die alten Begriffe behalten hat.

Was die römisch-katholische Kirche um ihrer eigenen theologischen Klarheit willen dringend benötigt, ist eine in sich stimmige Theologie und Praxis des Ablasses, die diese Fragen klärt und auch dem Kirchenvolk vermittelt wird. Das ist allerdings keine leichte Aufgabe – wenn sie denn überhaupt lösbar ist. Der gegenwärtige Zustand ist jedoch in hohem Maße unredlich. Von Theologen bekommt man auf Nachfrage verständnisvoll schöngeredete Erklärungen, die nur Theologen verstehen können und nicht der Praxis entsprechen, während in der Volksfrömmigkeit die theologischen Missverständnisse ständig neue Nahrung erfahren. Besser wäre es, die römisch-katholische Kirche könnte sich von diesem verirrten Relikt der Frömmigkeitspraxis verabschieden.

Harald Lamprecht

Literaturhinweis zum Thema:

Reinhard Brandt: Lasst ab vom Ablass,
Göttingen 2008, ISBN 9783525619100

Artikel-URL: https://www.confessio.de/artikel/207

Dieser Beitrag ist erschienen in Confessio 5/2008 ab Seite 18