Wieviel „Welt“ vertragen Christen?

Podium auf dem 31. Kirchentag zu Schulverweigerern aus religiösen Gründen

Es ist noch eine kleine Schar, aber ihre Zahl wächst in letzter Zeit deutlich an: Menschen, welche die öffentlichen Schulen für derart verdorbene und schädliche Einrichtungen halten, dass sie ihre Kinder selbst zu Hause unterrichten möchten. Die deutsche Rechtslage erlaubt das nicht. Hierzulande gilt die Schulpflicht, nicht nur eine allgemein gefasste Bildungspflicht. Warum das so ist, erläuterte Ministerialrat Harald Achilles, der im Hessischen Schulverwaltungsamt mit den Rechtsfragen betraut ist: „Der Besuch der Schule dient dem Bildungs- und Erziehungsauftrag, den Schule, Staat und Elternhaus gemeinsam haben. Schule bringt neben reiner Wissensvermittlung auch soziale Kompetenzen, die nicht im Bereich der Familie gelernt werden können. Dahinter steht der Grundgedanke der Integration aller Gruppen in unserem Staat.“

Volle KircheWie nötig eine solche Integrationspolitik ist, zeigen nicht nur die zunehmenden Probleme mit Migranten, sondern auch (unfreiwillig) die beiden eingeladenen Vertreter der Heimschulbewegung. Helmut Stücher, Gründer des Philadelphia-Heimschulwerkes, hat seine 11 Kinder überwiegend selbst zu Hause unterrichtet. Zur Begründung nennt er, dass den Kindern in der Schule ein anderes Menschenbild als das Christliche vermittelt würde. In der „Emanzipationspädagogik“ der neomarxistischen Frankfurter Schule, welche die öffentlichen Schulen dominiere, fand er das in Offb. 13 beschriebene Tier in Verbindung mit den Raubtieren aus Daniel 7 abgebildet. Die antichristlichen Mächte dieses Tieres, welche die Gesellschaft beherrschen und die Schule prägen seien

  1. der Materialismus
  2. der Pluralismus
  3. der Hedonismus, aus dem Sexualismus und Okkultismus folgen, und
  4. der Humanismus, der als atheistisches Bekenntnis zur neuen Religion geworden sei.

Herr Eickermann vom Verein „Schule zu Hause“ (Schuzh) konnte die Frage, wie in der Heimschule Kinder Toleranz mit anderen Glaubensauffassungen lernen, nicht beantworten und verwies statt dessen auf die Sozialisation in der Familie und die guten Lernergebnisse der Heimschulkinder. Auf die Notwendigkeit einer Erziehung, die zum friedlichen Umgang mit anderen Auffassungen befähigt, wies die Oberbürgermeisterin von Bonn, Bärbel Dieckmann, eindrücklich hin: Gerade weil in Bonn in 10 bis 15 Jahren über 40% der Kinder unter 15 Jahren Kinder islamischen Glaubens sein werden, sei gemeinsames Lernen für das Zusammenleben wichtig. Sie bezeichnete es als einen besonderen Gewinn des Grundgesetzes, sowohl starke Elternrechte und die Religionsfreiheit als auch das Recht des Kindes auf Bildung und Ausbildung zu garantieren. Als Mutter habe sie gern ihre Erziehungsrechte wahrgenommen, aber dennoch ihren Kindern nicht vorenthalten wollen, mit anderen Kindern zusammen zu lernen und auf diese Weise auch eigene Erfahrungen zu machen. Als Lehrerin hatte sie mit jungen Musliminnen zu tun, die ihr Grundrecht auf Bildung gegen ihre Eltern einforderten. Auch stellte sie die wichtige Frage: „Welche Angst müssen Eltern haben, die glauben, ihren Kindern nicht die Kraft und den Mut mitzugeben, auch mit anderen lernen und kommunizieren zu können?“

OKR i.R. Harald Bewersdorff (Düsseldorf) plädierte dafür, die Kritik am Schulsystem durchaus ernst zu nehmen, aber in geschwisterlichem Umgang zu fragen: Wo ist es verbesserungsfähig? Wo gibt es Möglichkeiten, unseren Glauben an der Schule sprachfähig zu machen? Keineswegs aber könne er die vorgetragene Fundamentalkritik teilen. Das Schulsystem der Bundesrepublik ist eines der freiheitlichsten und liberalsten, das keineswegs ein staatliches Schulmonopol enthält, sondern private Schulgründungen ermöglicht und unterstützt. Die Außerungen über das Schulwesen allgemein und den Religionsunterricht im Speziellen seien unerträglich und im Hinblick auf den Einsatz vieler Religionslehrer an öffentlichen Schulen absolut unangebracht. Was Herr Stücher als Gegenmodell vorgetragen habe, sei von einer Geschichtsphilosophie geprägt, die selbst ideologisch ist und einem pädagogischen Verständnis folgt, das quer zu unserem öffentlichen Bildungsverständnis liege: Dahinter steht eine ansonsten längst überwundene Pädagogik, die meint, die Schüler würden menschlich reifen, wenn man nur das Böse aus ihrer Umwelt entfernte. Bewersdorff brachte das Problem auf den Punkt: „Hier werden nicht nur Inhalte verweigert, sondern die Auseinandersetzung.“ Dies betrifft zum einen die Auseinandersetzung mit anderen Glaubensvorstellungen und zum anderen die Sexualerziehung. Dieser Bereich wird deshalb angegriffen, weil er in den betreffenden Familien hoch tabuisiert ist. Gerade im Hinblick auf unsere hoch sexualisierte Gesellschaft zeigt sich aber, wie nötig es ist, dass auch Sexualkunde an unseren Schulen gelehrt wird, meinte H. Bewersdorff.

Als Kernprobleme stellten sich innerhalb der Diskussion zwei Bereiche heraus:

a) Die Wahrnehmung der öffentlichen Schule scheint in hohem Maße verzerrt und weithin realitätsfremd zu sein. Die von den Vertretern der Heimschulbewegung ohne Quellenangaben aus angeblichem Unterrichtsmaterial vorgetragenen Zitate zur Sexualerziehung fanden bei einer spontanen Umfrage im Publikum im wesentlichen keine Bestätigung in heutiger Schulpraxis.

b) Eine ganze Reihe von Anfragen aus dem Publikum ging der Frage nach: „Was würde passieren, wenn man Heimschule für alle freigäbe? Gibt es dann Heimschule für Scientologen, für Neonazis, für Islamisten als legale Möglichkeit, die Kinder dem Kontakt mit der Gesellschaft zu entziehen? Diese Erwägungen leiten zu der Forderung aus dem Publikum, die Schulbesuchspflicht ohne Wenn und Aber durchzusetzen.

Die Teilnehmer an dieser Veranstaltung konnten etwas von dem Fanatismus in Verbindung mit Ansätzen einer gewissen Weltfremdheit bei den anwesenden Vertretern der Heimschulbewegung spüren. Dabei waren diese noch vergleichsweise moderate Vertreter – die Dokumente der Auseinandersetzungen bei den beteiligten Behörden bezeugen noch viel stärkere Ideologisierungen und Selbstausgrenzungen bei manchen für die Schulverweigerung verantwortlichen Eltern. Deren Kindern wünscht man unwillkürlich, dass sie wenigstens während der Schulzeit aus diesem von zahlreichen Angsten beherrschten häuslichen Ghetto Ausgang bekommen und auch freiere Verständnisse des Lebens wenigstens kennenlernen können. Die Radikalität der Schulverweigerer zeigt sich letztlich auch darin, dass sie die von OKR Bewersdorff so nachdrücklich eingeforderte konstruktive Mitwirkung an einer Verbesserung des Schulsystems verweigern. Möglichkeiten dafür gebe es viele. Das Schulgesetz enthält ein grundlegendes Verbot, dass Schüler durch Lehrer überwältigt werden. Dagegen könnten Eltern wenn nötig einschreiten, auch durch Inanspruchnahme der Rechtsmittel. Oder sie gründen eine Privatschule, bei der sie enorm viele Möglichkeiten haben, in Übereinstimmung mit unserer Gesetzgebung konstruktiv die Schule zu gestalten. Es ist aber kein Weg, der Auseinandersetzungen zu entfliehen.

Aus theologischer Sicht ist anzumerken, dass die Forderungen zur Selbstausgrenzung und zum ängstlichen Rückzug aus der Gesellschaft nicht vom biblischen Zeugnis gedeckt sind. Was auf den ersten Blick vielleicht wie ein besonders frommes gottergebenes Leben scheinen mag, das auch unangenehme Konsequenzen des Glaubens nicht scheut, erweist sich bei genauerer Betrachtung als eine von Angst verzerrte Verengung des Christentums. Programmatisch fragte ein Beitrag aus dem Publikum: „Wenn sich die Christen aus der Schule zurückziehen – wie sollen sie dann das Salz der Erde sein?“ Insofern ist es schwer nachvollziehbar, warum das evangelikale Nachrichtenmagazin Idea-Spektrum wiederholt mit werbendem Unterton von der Szene der Schulverweigerer berichtet. Schulverweigerer sind keine Märtyrer des Glaubens, sondern Sklaven ihrer Angst, die sie ihren Kindern aufzwingen.

Harald Lamprecht

 

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Dieser Beitrag ist erschienen in Confessio 3/2007 ab Seite 13