Steiners verrückte Ochsenherde

Rudolf Steiner als Prophet von BSE?

Gegenwärtig kann man kaum eine Kuh auf der Weide stehen sehen oder an einem Fleischer vorbei gehen, ohne an BSE denken zu müssen. Man könnte meinen, einen Vorteil von der BSE-Krise haben Vegetarier und Anthroposophen. Vegetarier, weil die Seuche ihrer Haltung weitere Popularität verschafft und sicherlich etliche neue Anhänger zuführt; Anthroposophen, denn sie können Rudolf Steiner als den frühesten Propheten von BSE verstehen. Hat er doch bereits in einem Vortrag vor den Arbeitern am Goetheanum in Dornach im Jahr 1923 darauf hingewiesen, dass „der Ochse“ „verrückt werden“ würde, wenn er Fleisch fressen würde.

Verblüffende Entsprechung

„Der Doktor“ hat es mal wieder gewusst. Nun müssten es doch alle einsehen, dass er wirklich hellsichtig war, dass er wirklich in die geistige Welt Einblick nehmen und daraus ungeahnte Zusammenhänge aufzeigen konnte.

BSE - ein Beweis für Steiners Autorität? Ein Beleg für die Richtigkeit seiner Visionen? In der Tat ist der Sachverhalt mit verblüffender Klarheit benannt. Auch Kritiker müssen zugeben, dass in der Fülle von Steiners Mitteilungen viele richtige, sogar einige bahnbrechende neue Erkenntnisse enthalten sind. Aber genau dort liegt das Problem: Nur, weil etliches (auch verblüffend) Richtiges dabei ist, wird noch nicht alles in Steiners Werk richtig – oder sagen wir besser: auch außerhalb der Anthroposophie nachvollziehbar.

Wahrheit und Irrtum

Auch wenn einige von Steiners Erkenntnissen im Grundsatz zutreffend sein mögen, so sind doch viele Details davon ausgenommen. Einige Beispiele:

Dass in der Erziehung das individuelle Menschenwesen entsprechend seinen besonderen Anlagen und Fähigkeiten gefördert werden sollte, ist ein Grundsatz, der inzwischen auch außerhalb der Waldorfpädagogik allgemein anerkannt ist – dass der Lehrer über die früheren Inkarnationen seiner Schüler Kenntnis haben sollte, allerdings nicht.

Dass die Medizin den ganzen Menschen mit seiner Lebensgeschichte in den Blick nehmen sollte, und nicht nur einzelne Organe kurieren, wird mittlerweilen auch von der „Schulmedizin“ vertreten, dass karmische Einflüsse für die Krankheit verantwortlich sind, hingegen nicht.

Eiweiß statt Harnsalz

Bei der „verrückten Ochsenherde“ ist dies nicht anders. Der von Steiner benannte Zusammenhang zwischen Fleisch in der Nahrung (durch Tiermehl) und Hirnstörungen bei Rindern (BSE) scheint sich auf erschreckende Weise bewahrheitet zu haben – auch wenn der Forschung die genauen Zusammenhänge gegenwärtig noch unklar sind und vieles auf Vermutungen beruht.

Im Detail lag Steiner aber daneben: Mit Harnsäuresalzen hat BSE offenbar nichts zu tun, sondern mit nicht abbaubaren Eiweißen. Die weitergehenden Folgerungen Steiners können wohl auch kaum ungeteilte Zustimmung finden, wenn er am Beispiel asiatischer Völker pauschal Fleischverzehr mit „Kriegswut“ und Vegetarismus mit Sanftmut verbindet.

Zurückhaltung angebracht

Anthroposophen tun deshalb gut daran (wie bisher auch geschehen) aus Steiners Äußerung zur verrückten Ochsenherde nicht allzu viel Kapital schlagen zu wollen. Die Januar-Ausgabe der anthroposophischen Zeitschrift „Info 3“ schreibt relativ zurückhaltend: „Der genaue Zusammenhang der heutigen BSE-Forschung mit den Äußerungen Steiners, insbesondere seiner Annahme einer Anhäufung von Harnsäuresalzen im fleischfressenden Rind ist jedoch in der auf seine Impulse zurückgehenden Demeter-Landwirtschaft und -forschung nicht geklärt.”

Kosmos wirkt im Rinderschädel

Statt Thriumph findet man auch auf anthroposophischer Seite Betroffenheit. Die „Demeter“-Betriebe, die Landbau nach der „biologisch-dynamischen Methode“ praktizieren, sind auf eigene Weise in Mitleidenschaft gezogen, denn sie können nun bestimmte „Präparate“ nicht mehr herstellen. Die Funktion der Demeter-Präparate, die streng nach den Angaben Rudolf Steiners hergestellt werden, wird in der „Dynamisierung der Lebendigkeit durch Einbeziehung kosmischer Kräfte“ gesehen. Ein Beispiel für derartige Präparate sind Pflanzenteile (z. B. Eichenrinde) die in einem Rinderschädel ein halbes Jahr in der Erde vergraben und dort „kosmischen Einflüssen und Kräften ausgesetzt“ werden, bevor sie in kleinen Mengen (etwa eine Messerspitze) dem Kompost zugegeben werden. Die tierische Hülle  (der Rinderschädel) soll bewirken, dass ein spezifischer Innenraum entsteht, der die bestimmte Wirkung des Pflanzenteiles unterstützt.

Steiner-Treue

Diese Präparate können nun nicht mehr gewonnen werden, seit Hirn und Schädel von Rindern als Sondermüll entsorgt werden müssen. Mit Alternativen tut man sich schwer, denn die Präparate-Erfindung mit den einzelnen Komponenten durch Steiner gilt als „sehr weisheitsvoll“. Hier zeigt sich, wie auf anthroposophischer Seite Steiners Ideen oft bis ins Detail hinein autoritative Geltung besitzen. Diese Steiner-Treue, die auch den seltsamsten Eskarpaden des Meisters folgt, wird - trotz mancher auch für Außenstehende anzuerkennender Leistungen Steiners - den Anthroposophen vorbehalten bleiben und kaum gesellschaftliche Akzeptanz finden. Die Schlussfolgerung jedenfalls, weil Steiner mit den Ochsen recht hatte, müsse auch alles andere von ihm stimmen, vermag nicht zu überzeugen.

Dr. Harald Lamprecht

ist Beauftragter für Weltanschauungs- und Sektenfragen der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens und Geschäftsführer des Evangelischen Bundes Sachsen.

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Dieser Beitrag ist erschienen in Confessio 1/2001 ab Seite