Verständnisbrückenbauanleitung

Wie kann trotz fundamental verschiedener Auffassungen Verständnis wachsen?

Wir erleben eine zerrissene Gesellschaft. Das gilt auf verschiedenen Ebenen. In der Kirche stehen sich liberale und konservative Strömungen oft unversöhnlich gegenüber – quer durch die Konfessionen. Im politischen Bereich vergiften rechtsnationalistische Bewegungen das kommunale Klima mit Hass gegen politische „Gegner“ und Hetze gegen Geflüchtete. Den wohlmeinenden Gegendemonstrationen gelingt es in der Regel nicht, mit hilflosen „Nazis-Raus!“-Rufen die Herzen der genervten Anwohner zu gewinnen. Im Familien- und Freundeskreis sind in der Corona-Pandemie ganz neue Risse aufgetreten. Die einstmals nette Tante oder der frühere Klassenkamerad raunen jetzt von der großen Verschwörung und halten Atemschutzmasken für ein Unterdrückungsinstrument. Die jeweiligen Positionen scheinen verhärtet und von fundamental verschiedenen Grundauffassungen geprägt zu sein. Ist da überhaupt noch eine Verständigung möglich?

Von Religionen lernen?

In den Religionen werden ebenfalls fundamentale Positionen vertreten. Zudem gelten sie meist als geoffenbarte überzeitliche Wahrheit, die nicht in der menschlichen Disposition steht und daher auch keine Kompromisse duldet. Dennoch war es in den vergangenen Jahrhunderten und Jahrzehnten möglich, in ökumenischen Gesprächen und interreligiösen Dialogen viel von der früheren Feindschaft und dem Gegeneinander abzubauen. Zwischen den christlichen Konfessionen ist im Rahmen der ökumenischen Bewegung viel Verständnis und Miteinander gewachsen. Im interreligiösen Dialog ist das Pflänzchen noch kleiner und zarter, aber dennoch ebenfalls am Wachsen. An die Stelle von Religionskriegen ist an vielen Orten aufrechtes Bemühen um respektvolle Begegnung und gegenseitiges Verstehen getreten. Lassen sich aus den Erfahrungen des interkonfessionellen und interreligiösen Dialoges Impulse gewinnen und Methoden analysieren, die auch in den gegenwärtigen Debatten Hilfestellungen geben können?

Homogene Gruppenbildung

Eine Grundspannung besteht darin, dass die meisten Menschen zwar einerseits harmoniebedürftig, aber andererseits eben auch verschieden sind. Eine übliche Reaktion, um dieser Spannung zu entkommen, ist die Bildung von Gruppen. In diesen finden Gleichgesinnte zueinander. Grundsätzlich gilt dabei: Je homogener die Gruppe ist, desto weniger Spannungen gibt es im Inneren der Gruppe. Es geht harmonischer zu, denn man versteht sich, weil man ähnlich tickt und gleiche Vorlieben oder Ideale teilt. Innerhalb der Gruppe gibt es kaum harte Anfragen an das eigene Selbst, es gibt in der Regel keinen Rechtfertigungsdruck für die eigenen Positionen und selten Störungen der Wohlfühlatmosphäre durch Positionen, die der eigenen fundamental entgegenstehen.

In gewissen Grenzen ist eine solche Gruppenbildung normal. Jeder Freundeskreis trägt mehr oder weniger deutlich Elemente einer solchen Gruppenbildung. Zum Problem wird das immer dann, wenn die Forderung nach innerer Homogenität zu stark ausgeprägt ist. Dann schlagen die Nachteile heftiger zu:

Erkauft ist diese innere Harmonie immer durch eine Vereinseitigung. Andere Aspekte des Lebens werden ausgeblendet. Dies reduziert nicht nur die Wahrnehmungs- und Empathiefähigkeit für andere. Es erzeugt auch einen nicht unerheblichen Anpassungsdruck. Die Wohlfühlatmosphäre gilt nur, solange ich auch „auf Linie“ mit der Gruppe bin. Individualität wird damit zwangsläufig reduziert. Die Schaffung eines solchen Innenraumes ist auch nur durch kontinuierlichen Ausschluss der Nicht-Zugehörigen möglich. Zudem gilt: Je größer Homogenität und Harmonie im Innenraum, desto heftiger sind notwendigerweise die Konflikte mit der Außenwelt, die ja im Prinzip aus anderen „Richtungsgruppen“ besteht.

Reduzieren lassen sich diese Spannungen immer durch mehr Bereitschaft zu Dialog und Kompromiss. Solches ermöglicht eine Weiterentwicklung durch Anregungen, die von außen aufgenommen werden. Wenn der Gruppendruck nachlässt, ist mehr individuelle Freiheit möglich. Freilich ist dies anstrengender, weil Aushandlungsprozesse immer mühsam sind und dann auch wieder stärker Eigenes in Frage gestellt wird.

Traditionalistische Gegenbewegungen

Die moderne Gegenwart ist davon geprägt, dass an vielen Stellen traditionell homogene Gruppen aufgelöst und vielfältiger werden: An die Stelle der bisherigen geografischen Trennung der Konfessionen und Religionen tritt eine religiös plurale Gesellschaft. Dies erzeugt Ängste. Das Eigene wird plötzlich mehr erklärungs- und begründungsbedürftig. Darum wachsen mit den Berührungsflächen auch die traditionalistischen Gegenbewegungen. Diese sehnen sich nach der „alten Zeit“, in der die eigene Weltdeutung unhinterfragte absolute Geltung beanspruchen konnte – zumindest im eigenen Nahbereich. Die AfD z.B. instrumentalisiert die Islamangst für politische Stimmengewinne und benutzt Religion, um Menschen gegeneinander aufzustacheln.

Inhaltlich fürchtet man im traditionalistischen Lager den „Verlust der Wahrheit“. Hinter dem Begriff steht genau genommen eher die Sorge um den Verlust von Hegemonie, also die eigene Sicht normativ für alle vorgeben zu können. Insofern sind Liberalisierungen einerseits und traditionalistische bzw. fundamentalistische Engführungen andererseits zwar gegenläufige, aber doch parallele und voneinander abhängige Prozesse. In dem Maß, wie die einen überkommene homogene Gruppenbildungen aufweichen und auflösen wollen, stemmen die anderen sich dagegen, um diese relative innere Homogenität zu retten, die ihnen Sicherheit gibt.

Verständigung auf Kosten der Wahrheit?

Ein Hauptargument traditionalistischer Kreise gegen die ökumenische Bewegung besteht in dem Vorwurf, dort würden „faule Kompromisse“ ausgehandelt: Um des lieben Friedens willen würde die Wahrheit verwässert oder aufgegeben. Das Argument verdient es, genauer betrachtet zu werden. Denn auf die Frage „Kann man mit der Wahrheit Kompromisse machen?“ lautet die Antwort: Nein, in der Regel nicht. Es ist jedenfalls auf lange Sicht niemals gut.

Allerdings hat das Argument auch einige Voraussetzungen, die zu prüfen wären. Diese lauten:

  1. „Es gibt diese eine Wahrheit.“ Das ist in Bezug auf religiöse Themen oft ein grundlegendes Postulat. In politischen Fragen gibt es in der Regel keine eindeutige Wahrheit. Im Bereich der Wissenschaft ist es wieder anders (siehe Kasten rechte Seite).
  2. „Ich habe vollständige Erkenntnis dieser Wahrheit.“ Man kann das auch abgestuft betrachten: „Ich habe die beste Erkenntnis dieser Wahrheit, alle anderen haben weniger davon verstanden.“
  3. „Alle anderen haben folglich nur dort, wo sie mit mir übereinstimmen, auch Anteil an dieser Wahrheit, niemals aber darin, wo sie abweichen.“

Wenn man alle drei Punkte für die eigene Konfession bejaht, dann ist mit einer solchen konfessionellen Superposition in der Tat kein ökumenischer Dialog möglich. Auch außerhalb des religiösen Bereiches ist eine Kompromissfindung mit einer solchen Auffassung eigentlich unmöglich.

Wenn ich allerdings a) unterscheiden kann zwischen der göttlichen Wahrheit einerseits und meiner Konfession andererseits und b) zugestehen kann, dass eine andere Konfession ggf. einzelne Elemente der göttlichen Wahrheit besser verstanden/bewahrt/überliefert haben könnte, als meine Konfession, dann haben das Gespräch und der Austausch darüber durchaus Sinn. Dann hilft mir nämlich dieser Austausch, selbst die göttliche Wahrheit besser zu verstehen.

In diesem Sinn funktioniert ökumenische Arbeit. In ihrem Selbstverständnis ist sie eben gerade kein Kompromiss mit der Wahrheit, sondern ein gemeinsames Annähern an diese. Sie geht davon aus, dass Gottes Gaben reichlich und unterschiedlich verteilt sind. Daher können alle aus ihren je eigenen Erfahrungen etwas beitragen. Es hat Sinn und hilft der Erkenntnis aufeinander zu hören.

Meinungen und Fakten

Wenn Personen mit verschiedenen Auffassungen aufeinandertreffen, steht jede für ihre Überzeugungen ein. Ein solcher Meinungsstreit kann dann fruchtbar sein, wenn dabei der Unterschied von Meinungen und Tatsachen berücksichtigt wird.

Grundsätzlich gilt: Meinungen kann man nur in Bereichen haben, wo es kein genaues Wissen dazu gibt. Ob der Tisch vor mir rund oder eckig ist, ob der Himmel grün ist oder blau, ob der Holocaust stattgefunden hat oder nicht und ob die Erde rund ist oder flach – das sind alles eindeutig geklärte Fragen. Zu solchermaßen bewiesenen Tatsachen kann man keine andere „Meinung“ haben. Wer sie dennoch vertritt, ist entweder im Irrtum (wenn der Person die Wahrheit unbekannt ist) oder es handelt sich um eine Lüge (wenn die Wahrheit bekannt ist).

Religiöse Fragen sind ihrem Wesen nach immer im Bereich der Meinung angesiedelt. Ob Christus in den Elementen des Abendmahls auch nach Ende der Feier noch gegenwärtig ist oder nicht, lässt sich nicht mit naturwissenschaftlichen Methoden ermitteln. Insofern sind zu solchen Fragen prinzipiell verschiedene Meinungen zulässig.

Für politische Fragen im engeren Sinn gilt dies meistens auch, insoweit es sich um einen Ausgleich bei Interessenkonflikten handelt. Die wissenschaftlichen Fakten jedoch, auf die sich politisches Entscheiden idealerweise stützen sollte, sind hingegen in der Regel nicht im Bereich von „Meinungen“ angesiedelt. Dass der menschliche CO2-Ausstoß maßgeblich zum Klimawandel beiträgt, ist keine offene Frage. Ob eine Impfung mehr Nutzen als Schaden bringt, ist nur so lange eine Frage der „Meinung“, wie noch keine ausreichende Anzahl valider medizinischer Studien dazu vorliegen.

Die folgenden Hinweise sind für Diskussionen zwischen verschiedenen Meinungen entwickelt. Wo es unterschiedliche Auffassungen zu Fakten gibt, kann es hilfreich sein, zu untersuchen, wie diese Positionen jeweils zustande kommen.

Dr. Harald Lamprecht

ist Beauftragter für Weltanschauungs- und Sektenfragen der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens und Geschäftsführer des Evangelischen Bundes Sachsen.

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Dieser Beitrag ist erschienen in Confessio 2/2022 ab Seite 06