Sekte als Körperschaft?

Zum Urteil im Körperschaftsprozess der Zeugen Jehovas

Am 29. März 2005 hat das Oberverwaltungsgericht Berlin (OVG) sein Urteil im Streit zwischen dem Land Berlin und der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas verkündet. Nach Auffassung des OVG erfülle die Gemeinschaft die Voraussetzungen für die Verleihung der Rechte einer Körperschaft des öffentlichen Rechts.

Prozessgeschichte

Dieser Prozess hat bereits eine lange Geschichte. Nachdem der Berliner Senat den Zeugen Jehovas die Körperschaftsrechte verweigert hatte, klagten diese 1993 erfolgreich vor dem Berliner Verwaltungsgericht. Die vom Land Berlin eingelegte Berufung wurde vom Oberverwaltungsgericht Berlin 1995 ebenfalls verworfen. Dagegen ging das Land Berlin in Revision vor dem Bundesverwaltungsgericht, welches 1997 in der Verweigerung der Teilnahme an demokratischen Wahlen den entscheidenden Grund zur Ablehnung der Verleihung von Körperschaftsrechten sah. Dagegen legten die Zeugen Jehovas Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht ein. Dieses urteilte im Dezember 2000 grundsätzlich über neue Kriterien zur Vergabe von Körperschaftsrechten an Religionsgemeinschaften. Neben den bisherigen Aspekten der Größe und Gewähr der Dauer wurde die Rechtstreue als neues Merkmal eingeführt. Demnach muss von Religionsgemeinschaften, die Körperschaft des öffentlichen Rechts werden wollen, die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland anerkannt und eingehalten werden. Insbesondere dürfen nicht regelmäßig Grundrechte durch Praktiken der Religionsgemeinschaft eingeschränkt oder beschnitten werden. Eine besondere Loyalität zum Staat könne hingegen nicht gefordert werden, nicht zuletzt, weil dieser Begriff wenig justiziabel ist. Daher wurde das Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes aufgehoben und die Sache zur weiteren Überprüfung anhand der neu definierten Kriterien zurückverwiesen. Im Mai 2001 beauftragte das Bundesverwaltungsgericht das Oberverwaltungsgericht Berlin mit der Tatsachenerhebung insbesondere zu den Fragen, 1) wie das Verhalten der Religionsgemeinschaft bei Bluttransfusionen an noch nicht einsichtsfähigen Kindern sei und 2) ob durch das Verhalten gegenüber Familienmitgliedern, welche die Gemeinschaft verlassen, der Bestand von Ehe und Familie gefährdet sei, sowie 3) ob die Religionsgemeinschaft Erziehungsmaßstäbe vorschreibe, die eine Entwicklung von Kindern zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten in einem Maße beeinträchtigen, dass das Kindeswohl gefährdet sei.

Verfahrensfragen

Entscheidend für den Ausgang des Urteils war die Entscheidung des Richters, zur „Tatsachenerhebung“ dieser Fragen keine Zeugenberichte ehemaliger Mitglieder der Religionsgemeinschaft anzuhören oder auszuwerten. Statt dessen wurden diese in der Pressemeldung zum Urteil relativ pauschal aufgrund beteiligter persönlicher Konfliktlagen als übertrieben unzuverlässig charakterisiert. So beschränkte sich das Gericht weitgehend auf Umfragen bei Ministerien, Kliniken, Staats- und Amtsanwaltschaften, Familiengerichten und Leitern familienpsychologischer Beratungsstellen - kurz gesagt: die mittlere und obere staatliche Ebene. Diese Nachfragen hätten „keine einschlägigen Ergebnisse“ zu Tage gefördert oder „objektive Anhaltspunkte“ ergeben. Darum habe das Gericht sich „nicht veranlasst gesehen, den in den zahllosen Berichten aufgestellten Behauptungen nachzugehen“ - so die Pressemeldung des Gerichts.

Mit dieser Selektion konnte der Richter zu dem Ergebnis kommen, dass es keine Gründe gebe, die schwerwiegend genug seien, um den Zeugen Jehovas den Körperschaftsstatus vorzuenthalten.

Was bedeutet der Körperschaftsstatus?

Der Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts ist eine Organisationsform, die mit einer Reihe von Privilegien verbunden ist. Eigentlich ist der Körperschaftsstatus eine Auslagerung staatlicher Hoheitsaufgaben in den Verantwortungsbereich der Betroffenen. Beispiele dafür sind Gebietskörperschaften wie Länder, Landkreise und Gemeinden, aber auch Personalkörperschaften wie die Anwaltskammer oder Ärztekammer. Die Religionsgemeinschaften sind ein Sonderfall, da in ihnen der Staat keine Rechtsaufsicht führt. Zu den Privilegien gehören in erster Linie Steuererleichterungen, aber auch das Recht, eine eigene Beamtenschaft einzurichten (Dienstherrenprivileg), Kirchensteuern über die Finanzämter einziehen zu lassen und eigene Gesetze für die Mitglieder zu erlassen (die freilich auch nicht im Widerspruch zu den allgemeinen Gesetzen stehen dürfen). Die Erteilung von Religionsunterricht an staatlichen Schulen ist hingegen nicht mit dem Körperschaftsstatus verbunden und kann auch unabhängig davon gewährt werden.

Sekte, Kirche oder Körperschaft?

Die Verleihung des Körperschaftsstatus bedeutet keineswegs eine staatliche Anerkennung als „Kirche“ wie dies gelegentlich in den Medien falsch berichtet wird. Eine solche Anerkennung gibt es aber in Deutschland nicht. An genau diesem Missverständnis haben die Zeugen Jehovas jedoch ein populistisches Interesse: Sie möchten nicht mehr als Sekte tituliert werden, ohne aber ihre sektiererischen Lehren und Verhaltensweisen aufzugeben.

Die Einschätzung einer Gruppierung als „Sekte“ hängt aber nicht an ihrer juristischen Organisationsform. Je nachdem, welchen Aspekt man betrachtet, geht es dabei

a) in theologischer Hinsicht um die Glaubenslehren und dabei insbesondere um die mit der eigenen Lehrauffassung verbundenen Exklusivansprüche, oder

b) in ethischer Hinsicht um die Konfliktträchtigkeit der Gruppe, d.h. in wie starker Weise sie mit der umgebenden Gesellschaft Auseinandersetzungen provoziert.

Für die Zeugen Jehovas ist beides nach wie vor in hohem Maße gegeben. Darum gibt es wohl wenige Gruppen, für die der Begriff „Sekte“ in solchem Maße passend ist. Solange sich die Gemeinschaft nicht selbst ändert und Lehren bzw. Verhaltensweisen revidiert, ändert sich auch nichts an ihrem Sektencharakter - egal wie die Gerichte über ihren rechtlichen Status entscheiden.

Wie geht es weiter?

Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin ist noch nicht rechtskräftig. Nach Vorliegen der schriftlichen Urteilsbegründung will das Land Berlin prüfen, ob es Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht einlegt. Falls es nicht dazu kommt, vermuten Beobachter, dass dann in allen Bundeländern entsprechende Körperschaftsanträge durch die Zeugen Jehovas gestellt werden.

Es ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass bereits eine ganze Reihe anderer kleinerer und größerer Gemeinschaften den Körperschaftsstatus besitzen, wie z.B. die Neuapostolische Kirche, die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage (bislang nur in Hessen, nicht in Sachsen), ebenso Freikirchen wie z.B. der Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden, der Bund Freikirchlicher Pfingstgemeinden u.a.

Welche Auswirkungen das Urteil für das Verhältnis der Zeugen Jehovas zu ihrer Umgebung und für die Rechtsprechung insgesamt hat, wird erst die Zukunft erweisen können.

Dr. Harald Lamprecht

ist Beauftragter für Weltanschauungs- und Sektenfragen der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens und Geschäftsführer des Evangelischen Bundes Sachsen.

Artikel-URL: https://www.confessio.de/artikel/151

Dieser Beitrag ist erschienen in Confessio 2/2005 ab Seite 06