Messianische Juden im Gespräch

Evangelischer Bund Sachsen trifft Wladimir Pikman vom Beit Sar Shalom Evangeliumsdienst e.V.

Um der Frage nach einer angemessenen Position der sächsischen Landeskirche zu den messianischen Juden näher zu kommen, hat der Evangelische Bund Sachsen den Leiter des Berliner Missionswerkes, Beit Sar Shalom und Rabbiner der dortigen messianisch-jüdischen Gemeinde, Wladimir Pikman, zum Gespräch eingeladen.

Jüdischer Atheist lernt Jesus kennen

Wladimir Pikman stammt aus einer liberalen jüdischen Familie in Kiew. In seiner Jugend war er zunächst eher agnostisch bzw. atheistisch geprägt. Der zum Teil doch recht starke Antisemitismus, den er in seiner Umgebung zu spüren bekam, ließ ihn dann zum Zionisten werden. Er berichtet davon, wie er in Israel an der Klagemauer eine persönliche Gottesbegegnung erlebt hat. Plötzlich sei ihm bewusst geworden, dass es Gott gibt. Von einer Sekunde zur Anderen waren seine Zweifel und sein Desinteresse weggewischt. Er hatte einen Zettel mit der Frage, ob das Leben einen Plan hat, in die Mauer gesteckt. Als Antwort fühlte er sich von Gott geschickt, in die Ukraine zurückzukehren. Dort traf er einen jüdischen Freund, der inzwischen an Jesus glaubte. Zunächst versuchte er, dem Freund die Überzeugung auszureden und wollte aus dem Alten Testament beweisen, dass Jesus nicht der Messias sein könne. Im Ergebnis hätten aber diese Bemühungen im Verlauf eines Jahres ihn selbst überzeugt.
1992 wurde er Mitglied der jüdisch-messianischen Gemeinde in Kiew.

Gemeindegründer

Als Wladimir Pikman 1995 mit seiner Frau nach Deutschland kam, habe er es als einen Auftrag von Gott angesehen, eine messianische Bewegung ins Leben zu rufen. In den 14 Jahren seines Wirkens hat er fast 300 Personen getauft, davon die meisten Juden in Berlin. Inzwischen gibt es messianische Gemeinschaften und Werke in mehr als 30 Orten in Deutschland.

Die jüdische Bevölkerung hat sich nach seinen Aussagen in Deutschland seit 1991 mehr als verzehnfacht (von ca. 30 000 auf jetzt ca. 300 000). Der größte Teil von ihnen sind russische Juden, die als Einwanderer nach Deutschland gekommen sind. Allerdings leben in Berlin auch etwa 15 000 bis 30 000 Israelis. Inzwischen würden mehr Juden aus Israel nach Deutschland übersiedeln als andersherum.

Mit dem Anwachsen der jüdischen Bevölkerung vergrößert sich auch die Basis für messianische Juden. Wurde ihre Zahl vor 20 Jahren noch auf maximal 100 geschätzt, so geht er jetzt von mindestens 5000 aus.

Legitimer Teil des Judentums

Vor dem Zweiten Weltkrieg habe es in Deutschland zwischen 100 000 und 300 000 Judenchristen gegeben – weit mehr als in allen anderen Ländern zusammen. Aus der Sicht nationalsozialistischer Rassentheorien machte das keinen Unterschied, ob ein Jude getauft ist oder nicht. Sie wurden ebenso wie liberale, atheistische oder orthodoxe Juden in Konzentrationslager verschleppt und umgebracht. Vor dem Krieg jedoch hat es ein eigenes judenchristliches Leben in Deutschland gegeben, betont Wladimir Pikmann, der mit diesem Argument dafür streitet, auch heute die messianische Bewegung als legitimen Teil des Judentums anzuerkennen. So hätten allein in Berlin drei messianisch-jüdische Gemeinden bestanden. Auch die Jerusalemkirche in Hamburg hätte stark unter Einwanderern aus Osteuropa evangelisiert. Sogar Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf wird als Gründer der ersten messianischen Gemeinde in Europa gelobt, weil er in seinem Schloss Räume zur Verfügung gestellt habe, in denen Jesusgläubige Juden weiter jüdische Praktiken durchführen konnten. Nach dem Holocaust sei das Thema jedoch totgeschwiegen worden. Sogar das Jüdische Museum zeige zwar mit Stolz die Weihnachtsbäume säkular assimilierter Juden, aber nichts über die Judenchristen. Den Begriff „messianische Juden“ gibt es erst seit ca. 30 Jahren. Auf Rückfrage wird deutlich, dass es doch eine wesentliche Differenz zwischen den damaligen Judenchristen und den heutigen messianischen Juden gibt. Ein Judenchrist ist jemand mit jüdischer Abstammung, der an Jesus glaubt und in einer Kirche zu Hause ist. Demgegenüber ist ein messianischer Jude ein Mensch mit jüdischer Abstammung, der an Jesus glaubt, aber weiter versucht, als Jude zu leben. Die bleibende Selbstidentifikation als Juden (und eben nicht die Verschmelzung mit dem Christentum) ist folglich die Besonderheit und das Markenzeichen der messianischen Juden.

Zwischen den Religionen

Die Stellung zwischen den Religionen zeigt sich auch in verschiedenen praktischen und theologischen Fragen. So gibt es z.B. in den jüdisch-messianischen Gemeinden keine Kindertaufe, weil die Taufe in Beziehung zur jüdischen Mikwe gesetzt wird. Diese ist für Erwachsene, nicht für Kleinkinder konzipiert. Daher liegt das typische Taufalter bei 12 Jahren für die Mädchen und bei 13 Jahren für die Jungen. Getauft wird mit der Formel aus Mt. 28 und durch Untertauchen. Daher finden die Taufen nicht im Gottesdienst, sondern an Gewässern in der Umgebung statt. Als wichtig gilt, dass das Taufwasser überall hin gelangt. Es sollen also auch die Finger gespreizt und Ringe vorher abgelegt werden. Der Rabbiner steigt nicht mit ins Wasser, sondern bleibt am Ufer, so dass sich faktisch der Täufling selbst tauft.

Kompliziert wird es im Blick auf die Auffassung von der göttlichen Trinität. Als Protest gegen den Antisemitismus wollen sich viele Juden (auch messianische) von allem Christlichen distanzieren. Mit dem Konzil von Nizäa werden eine Reihe von christlichen Entfremdungen gegenüber dem Judentum in Verbindung gebracht, z.B. das Feiern der Feste zu anderen Zeiten (Sonntag statt Schabat, Ostern statt Passa). Manche gehen daher auch so weit in ihrem Versuch, mit den Juden weiterhin gute Gemeinschaft zu haben, dass sie die Trinitätslehre in Frage stellen.

Persönlich zeigt sich Wladimir Pikman hingegen von der Richtigkeit der Trinitätsauffassung überzeugt, denn sie ist im neuen Testament tief verankert. Jesus wird mit gleichen Worten wie Gott im jüdischen Gebet angesprochen (adonai). Wenn man das NT richtig wahrnimmt, kann man daher nicht bezweifeln, dass Jesus Gott gleich ist.

Die Einordnungsprobleme zeigen sich auch praktisch beim Abdruck der Gottesdiensteinladungen in den Tageszeitungen. Die messianische Gemeinde in Berlin selbst wollte gern bei den jüdischen Synagogengottesdiensten mit aufgeführt werden. Dagegen hat sich aber die jüdische Gemeinde beschwert. Seitdem sind die messianischen Juden mit bei den Freikirchen eingeordnet.

Gemeindealltag

Aufgrund der großen geografischen Ausdehnung des Einzugsgebietes konzentrieren sich die Gemeindeaktivitäten in Berlin auf den Sabbat. Ab 9 Uhr kommen die ersten Besucher, wobei der Sabbatgottesdienst erst 11 Uhr beginnt und ca. drei Stunden dauert. Der erste Teil entspricht dabei weitgehend dem jüdischen Synagogengottesdienst, bei dem auch hebräisch gebetet und gesungen wird. Der zweite Teil ist von modernem Lobpreis geprägt. Nach einer Pause folgt der dritte Teil Kindersegnung, Predigt, Schlussgebeten und Ansagen. Dem Gottesdienst schließen sich gemeinsames Essen sowie Bibelstunden, Fragenbeantwortung und lockeres Gespräch mit Gästen an. Das Abendmahl wird in der Berliner Gemeinde nur einmal im Jahr im Rahmen des Passa gefeiert.

Ritualgesetz?

Wie halten es die messianischen Juden mit der Verbindlichkeit des jüdischen Ritualgesetzes? In gewisser Weise markiert neben der Frage nach dem Messias dieser Punkt eine Grenzlinie zwischen Judentum und Christentum. Paulus wehrt sich in seinen Briefen immer wieder nachdrücklich gegen Forderungen zur Beschneidung und zur Einhaltung bestimmter Zeiten, die aus konservativ-jüdischen Kreisen erhoben wurden. An dieser Stelle folgen ihm die messianischen Juden nicht. Die Beschneidung ist als Teil der jüdischen Identität weiterhin wichtig für die Zugehörigkeit, wenngleich sie nicht als Heilsmittel verstanden werden soll.

Im Blick auf die Speisegebote wird diskutiert, was man essen darf und was nicht. Dabei reicht das Spektrum von vollkommener Freiheit ohne Speisevorschriften bis zu rabbinisch-orthodoxer Trennung von Milch und Fleisch mit zwei Kühlschränken. In den USA werden Symposien durchgeführt, die der Frage nachgehen, was Jesus mit der Tora gemacht hat. Insgesamt feiern die messianischen Juden die jüdischen Feiertage, bekämpfen aber die christlichen nicht. So sind sie gern zu Weihnachten bei christlichen Freunden zu Besuch, ebenso wie sie diese dann zu ihrem Laubhüttenfest einladen.

 

Dr. Harald Lamprecht

ist Beauftragter für Weltanschauungs- und Sektenfragen der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens und Geschäftsführer des Evangelischen Bundes Sachsen.

Artikel-URL: https://www.confessio.de/index.php/artikel/286

Dieser Beitrag ist erschienen in Confessio 2/2012 ab Seite 12