Die Henne und das ökumenische Ei

Zur Spannung zwischen regionaler und überregionaler Ökumene

Was war eher, die Henne oder das Ei? Dieses Paradoxon ist schwer aufzulösen, denn die Henne erzeugt erst das Ei, aus dem eine Henne schlüpfen kann. Das Henne-Ei-Problem steht darum für verfahrene Situationen, in denen Ereignisse von Voraussetzungen abhängen, die sie selbst erst schaffen müssen. In gewisser Weise geht es auch der Ökumene so. Genauer gesagt besteht mitunter eine schwer ausgleichbare Spannung zwischen überregionaler und regionaler Ökumene.

Der ökumenische Aufbruch

Nach Jahrhunderten der Trennung und z.T. blutiger Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen christlichen Konfessionen ist in den vergangenen 60 Jahren ein erstaunliches neues Bewusstsein für die ökumenische Annäherung der christlichen Kirchen gewachsen. Seit der Gründung des Ökumenischen Rates der Kirchen haben viele Konfessionskirchen gelernt, über ihren eigenen Tellerrand zu schauen und konnten aus den christlichen Traditionen anderer Konfessionen wertvolle Bereicherungen für ihr eigenes Glaubensleben gewinnen.

Das Problem

Eine Reihe von Kirchen sind von Anbeginn in der Ökumene engagiert. Andere Gemeinschaften zeigen erst in jüngster Zeit ihr Interesse, in eine größere Nähe zu den in der ökumenischen Bewegung verbundenen Kirchen zu treten. Die Motive dafür sind oft vielschichtig. Zudem ist das ökumenische Interesse in diesen Gruppen oft nicht einheitlich. Es gibt treibende ebenso wie bremsende Kräfte, welche die jahrzehntelang eingeübten Vorbehalte gegenüber der Ökumene nicht so schnell vergessen können und wollen. Insofern ist die ökumenische Annäherung immer ein schwieriger Prozess, der von beiden Seiten viel Geduld braucht und auch lernen muss, mit Enttäuschungen zurecht zu kommen. Woran kann man aber ersehen, dass in einer Gemeinschaft das ökumenische Interesse wirklich und echt gegeben ist? Wie kann man vermeiden, dass lediglich nach außen hin ökumenisches Interesse vorgespielt wird, um damit verbundene Vorteile zu erlangen, während nach innen hin an traditioneller Abgrenzung und interkonfessioneller Polemik festgehalten wird? Die Kirchen haben für diese Prüfung auf den jeweiligen Ebenen verschiedene Kriterien entwickelt, die jeweils für sich durchaus ihre Berechtigung haben, aber zum Teil einander widersprechen und somit zum dem Henne-Ei-Problem führen können.

Die regionale Ebene

Die ökumenische Stellung der römisch-katholischen Kirche entscheidet sich nicht in Kleinkleckersdorf, sondern in Rom. Das gilt übertragen für jede andere Religionsgemeinschaft mit zentraler Organisationsstruktur und bedeutet: Der Prediger vor Ort kann ein lieber und netter Mensch sein. Er kann vielleicht auch mal ein oder beide Augen zudrücken, seine Vorschriften nicht ernst nehmen und gemeinsame Aktionen ermöglichen, die von der Hierarchieebene darüber nicht erlaubt worden wären. Eine saubere Ökumene ist solches Agieren außerhalb des offiziellen Rahmens aber nicht. Ökumenische Beziehungen von Kirchen zueinander werden dadurch nicht begründet. Entscheidend ist nicht in erster Linie die Freundlichkeit der menschlichen Begegnung, sondern die auch offiziell erklärte Übereinstimmung in grundlegenden christlichen Überzeugungen. Von der Neuapostolischen Kirche wird beispielsweise verlangt, dass sie die Sichtweisen, welche in den freundlichen Dialoggesprächen durch ökumenefreudige Dialogbeauftragte geäußert werden, auch im offiziellen Katechismus „Fragen und Antworten“ verankert, der nach Innen zur Schulung der Mitglieder eingesetzt wird. Nur so lässt sich ein Auseinanderbrechen in eine geschönte Außendarstellung und eine exklusive Innensicht vermeiden. Ökumene lebt nicht von schönen Gesten, sondern von echter inhaltlicher Annäherung an Christus.

Fazit: Verantwortliche Ökumene vor Ort ist nur möglich, wenn sie auch durch gleichgerichtete überregionale Prozesse begleitet wird.

Die überregionale Ebene

Auf den überregionalen Ebenen laufen – aus guten Gründen – die Entscheidungs- und Begründungslinien genau umgekehrt. Jede Gemeinschaft, die eine Mitgliedschaft in der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK) oder im Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) beantragt, muss nachweisen, dass sie zuvor auf regionaler Ebene ein verlässlicher ökumenischer Partner geworden ist. Das ist auch richtig so, denn die Probleme und Konflikte ergeben sich vor Ort. Es soll niemand in den ökumenischen Gremien Akzeptanz anderer Christen heucheln können, ohne sie auch in der Praxis bewähren zu müssen. Nur damit lässt sich vermeiden, dass Gruppen die Vorteile offizieller Akzeptanz (wie z.B. Anstellungsfähigkeit ihrer Mitglieder in kirchlichen Häusern gemäß ACK-Klausel) genießen, ohne selbst die Mühen echter Gemeinschaft auf sich zu nehmen.

Im Einzelfall kann diese Situation dazu führen, dass sich die Ebenen gegenseitig blockieren. Dann bleibt es bei dem Status Quo und die Ökumene gefriert zu einer Ökumene der Etablierten, bei der „später“ zu ökumenischen Einsichten kommende Gemeinschaften keine Chance haben.

Lösungsversuche

Eine Lösung dieses Knotens lässt sich nur durch eine Unterscheidung der verschiedenen Arten der Zusammenarbeit erreichen. Es gibt ein weites Spektrum der Möglichkeiten. Gemeinsame kultisch-rituelle Veranstaltungen und öffentliche Erklärungen stehen dabei nicht am Anfang. Wichtiger zuvor sind gemeinsame Aktionen zum gegenseitigen Kennenlernen und zum Gespräch: Besuche, Musikveranstaltungen, gegenseitige Einladungen zu besonderen Anlässen, gemeinsames öffentliches und soziales Engagement. Ökumene lebt von der persönlichen Freundschaft von Christen aus verschiedenen Traditionen. Am Anfang jeder ökumenischen Begegnung steht folglich das gegenseitige Kennenlernen, der Abbau von Fremdheit und von Missverständnissen. Was bleibt, das sind die inhaltlich oder traditionell begründeten Verschiedenheiten - und auch mancher Aspekt der gegenseitigen Bereicherung. Solche Begegnungen haben keine vollständige lehrmäßige Einigung zur Voraussetzung. Sie führen auch nicht zu einer sofortigen Aufhebung der Verschiedenheiten. Aber in ihnen kann Verstehen und Vertrauen wachsen - und das sind wiederum die Voraussetzungen für weitere Schritte.

Falsch wäre es, solche Begegnungen mit Hinweis auf noch nicht erfolgte Anerkennung auf oberer Ebene abzulehnen. Falsch wäre es ebenso, unter Ignoranz der Umgebung mit gemeinsamen Gottesdiensten oder gemeinsamer Öffentlichkeitsarbeit zu beginnen. Es geht darum, inhaltlich begründete und verantwortliche Gemeinschaft zu fördern, aber nicht nach außen hin eine Fassade von Gemeinschaft zu suggerieren, die innerlich nicht ausreichend unterfüttert ist.

Geschichte und Gegenwart

In der Beurteilung des ökumenischen Engagements einer Gemeinschaft ist nicht allein wichtig, was sie in ihrer Geschichte für Meinungen und Positionen vertreten hat, sondern vor allem, wie sie sich in der Gegenwart dazu verhält. Heiner Grote hat in Bezug auf die Römisch-Katholische Kirche darauf hingewiesen, dass nicht nur wichtig ist, was Rom verlautbart, sondern auch was „verleisbart“ wird. Wenn bestimmte frühere Lehren in der gegenwärtigen Verkündigung nicht mehr vorkommen, ist das auch eine Tatsache, die im ökumenischen Gespräch gewürdigt werden kann, selbst wenn keine offizielle Distanzierung erfolgt. Dies erfordert natürlich ein genaues Hinsehen auf die gelebte Praxis in den Gemeinden, um sich nicht von Doppelzüngigkeit oder Public-Relations-Bemühungen blenden zu lassen. Offizielle Erklärungen würden natürlich eine bessere Basis legen. Oft brauchen diese aber Zeit und eine vorauslaufende Praxis, in der die geänderten Auffassungen verwurzelt sind. An dieser Stelle ökumenische Kontakte zu verweigern, ist nicht immer angemessen. Was zählt, sind die Fakten in der Gegenwart. Diese existieren zwar nicht ohne Geschichte, aber am Umgang einer Gemeinschaft mit ihrer Geschichte kann man viel erkennen. Manche Gruppen tun sich sehr schwer damit, Fehler der eigenen Vergangenheit aufzuarbeiten und beim Namen zu nennen. Die Neuapostolische Kirche befindet sich momentan in einer solch schwierigen Phase, was die Beurteilung des Wirkens von Stammapostel Bischoff angeht, der behauptet und zum verpflichtenden Dogma erhoben hatte, dass Jesus zu seinen Lebzeiten wiederkommen würde. Die evangelische Kirche hingegen hat sich immer wieder auch kritisch mit Irrwegen der eigenen Geschichte auseinandergesetzt - seien es z.B. Luthers judenfeindliche Äußerungen oder die Verstrickungen auch von Kirchenmitgliedern während der Nazizeit. Wenn Kirchenkritiker wie z.B. das Universelle Leben die evangelische Kirche mit Hinweis auf diese Punkte der Vergangenheit diskreditieren möchten, ist dies nicht angemessen.

Fazit

Das Bemühen um ein gemeinsames Zeugnis aller Christen gehört zu den unverzichtbaren Aufgaben jeder christlichen Gemeinschaft, denn es ist ein Herzensanliegen von Jesus (Joh. 17). Die verschiedenen Ebenen der ökumenischen Begegnung dabei aufeinander bezogen bleiben zu lassen ist eine ständige Aufgabe in der Begegnung der Konfessionen.

Harald Lamprecht

Artikel-URL: https://www.confessio.de/artikel/179

Dieser Beitrag ist erschienen in Confessio 2/2008 ab Seite 07