Kirche und Wissenschaft

Galileo Galilei und warum sich Kirche und Wissenschaft trotzdem vertragen

Zur Richtigstellung einiger falscher Geschichtsklischees

Meine Tochter bekam in der Schule eine schlechtere Zensur, und ich bin Schuld daran. In Geschichte wird gerade die Renaissance behandelt, jener enorm spannende und vielschichtige Zeitabschnitt in der Wende vom späten Mittelalter zur frühen Neuzeit. Wir haben uns darüber unterhalten mit der Folge, dass sie in der Geschichtsarbeit nicht mehr einfach die gelernten platten Klischees wiederholen konnte und wollte. Die schlichte Grundaussage „Es gab viele wissenschaftliche Entdeckungen, aber die Kirche hatte Angst vor allem Neuen und war dagegen.“ kannte ich schon aus der ideologisch verzerrten sozialistischen Schulbildung. Dass aber solche nachweislich falschen Darstellungen nicht nur von möglicherweise dürftig umgeschulten Lehrern, sondern ebenso in aktuellen Schulbüchern verbreitet werden, hat mich doch überrascht. Kronzeuge der historisch verbrämten antikirchlichen Polemik ist der Fall Galileo Galilei, wobei 100 Jahre Differenz zwischen verschiedenen Ereignissen ebenso locker übergangen werden wie zum Verständnis wesentliche realgeschichtliche Einbettungen der Ereignisse. Hauptsache, am Ende steht fest, was man schon immer zu wissen meinte: Die Wissenschaft entdeckt Neues, die Kirche aber klebt am Alten, weil sich Bibelglaube und Wissenschaft eben nicht vertragen. q.e.d. Wie die schlimmsten dieser Klischees überwunden werden können, soll im folgenden versucht werden, kurz zu zeigen.

Zunächst noch eine Vorbemerkung: Es ist unfair, Geschichte aus dem Abstand von 500 Jahren mit den heute gültigen Wertmaßstäben zu beurteilen, ohne darüber zu reflektieren, was damals gesellschaftlich allgemein akzeptierte Überzeugungen und Verhaltensweisen waren. Wenn man also meint: „Wie konnten manche so borniert sein, die Wahrheit des heliozentrischen Weltsystems nicht zu akzeptieren?“, dann hat man die ungeheuerliche Neuigkeit dieses der Anschauung direkt widersprechenden Weltbildes nicht erkannt. Wenn heute einzelne Stimmen meinen, wir müssten auf zinsbehaftetes Geld als Tauschwährung verzichten, weil es negative gesellschaftliche Folgen hat, ist das ebenso neu und unerhört. Vielleicht sind wir in 200 Jahren die Dummen, die das nicht haben sehen wollen, vielleicht kommt aber auch alles ganz anders. Doch nun zu den Fakten.

Domherr Kopernikus

Die These, dass „die Kirche“ skeptisch gegen neue wissenschaftliche Entdeckungen sei, scheitert schon an den beteiligten Personen. Nikolaus Kopernikus (1473-1543), der mit seiner Berechnung der Planetenbahnen dem heliozentrischen Weltbild zum Durchbruch verholfen hat, war selbst ein Kirchenmann. Als Domherr und Administrator in Frauenburg (Ermland) gehörte er zum katholischen Klerus und war lediglich Hobby-Astronom. 1537 wäre er beinahe selbst Bischof geworden, wäre nicht ein anderer gewählt worden. Glaube und Wissenschaft waren in seiner Person jedenfalls nicht im Widerspruch, sondern miteinander verbunden. Dass er sein Hauptwerk De Revolutionibus Orbium Coelestium erst kurz vor seinem Tode veröffentlichte, lag daran, dass er seine weltstürzenden Theorien nicht beweisen konnte. Zum Teil waren sie auch aus heutiger Sicht sachlich falsch, denn Kopernikus ging noch von harmonischen Kreisbahnen aus. Das Buch allerdings widmete er dem damals amtierenden Papst Paul II. – auch kein Indiz für einen grundlegenden Konflikt zwischen Glaube und Wissenschaft.

Wissenschaftsförderer auf dem Papststuhl: Gregor XIII.

Als ausgesprochener Förderer der Wissenschaft hat sich der Zeitgenosse von Kopernikus, Papst Gregor XIII. (1502-1585) gezeigt. 1578 ließ er in den Vatikanischen Gärten einen Turm für astronomische Beobachtungen errichten und begründete damit die Vatikanische Sternwarte. Ihr Zweck war es, die Kalenderreform vorzubereiten, die 1582 mit der Bulle „Inter gravissimas“ erlassen wurde. Sie setzte den bis heute gültigen Gregorianischen Kalender in Kraft. Die Kalenderreform basierte maßgeblich auf Kopernikus‘ De Revolutionibus Orbium Coelestium. Kopernikus‘ spekulative Theorie wurde durch einen neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen aufgeschlossenen Papst aufgenommen und zur Grundlage einer so elementaren Angelegenheit wie der Datumsbestimmung und der Festlegung des Ostertermines gemacht. Sieht so etwa eine grundsätzliche Gegnerschaft von Kirche und Wissenschaft aus? Warum liest man von Gregor XIII. an dieser Stelle nichts in den Geschichtsbüchern?

Giordano Bruno

Völlig anders gelagert ist das Schicksal von Giordano Bruno (1548-1600), der gern mit in die Reihe zwischen Kopernikus und Galilei gestellt wird, obwohl er dort nicht so recht hinein passt. Kopernikus war schon tot, bevor Bruno geboren wurde. Giordano Bruno war nach heutigen Maßstäben auch kein Wissenschaftler, sondern spekulativer Naturphilosoph, Mystiker, Exzentriker und - heute würde man sagen: Esoteriker. Zwar hat er sich auch auf Kopernikus berufen, doch in den Konflikt mit den kirchlichen Instanzen kam er nicht wegen seiner kosmologischen Theorien, sondern aufgrund seiner Bestreitung zentraler christlicher Glaubensaussagen wie der Gottessohnschaft Jesu. Offenbar war Giordano Bruno nicht nur ein brillanter Geist, der es immer wieder schaffte, einflussreiche Gönner zu finden, sondern auch ein Querulant, der es an nahezu jeder Station seines Lebens dazu brachte, nach kurzer Zeit exkommuniziert und vertrieben zu werden. 1565 wurde er Dominikanermönch und 1572 Priester. Vier Jahre später floh er aus seinem Kloster. Als bekannt wurde, dass er dabei Schriften des Kirchenvaters Hieronymus in die Latrine geworfen hatte, musste er auch Rom verlassen und kam nach einer längeren Wanderung nach Genf. Dort wurde er Calvinist, wurde aber bald verhaftet und exkommuniziert. 1579 kam er nach Toulouse und später nach Paris. 1583 ging er nach England, provozierte mit seinen Angriffen auf Aristoteles in Oxford einen Skandal, schrieb naturphilosophische Schriften und Polemiken gegen die Oxforder Gelehrten. 1585 wieder in Paris muss er die Stadt nach Tumulten über seine 120 Thesen gegen Aristoteles und Schmähschriften gegen den Mathematiker Fabrizio Mordente eilig wieder verlassen. Daraufhin ging er in lutherische Gebiete und kam nach Wittenberg, wo er philosophische Vorträge hielt und u.a. magische Schriften verfasste[6] Prag und Helmstedt hießen seine nächsten Stationen, bis er auch von lutherischer Seite exkommuniziert wurde. In Frankfurt am Main wurde er 1591 ausgewiesen, so dass er über Zürich und Padua nach Venedig ging. Dort kam es zu Streitigkeiten mit seinem Gastgeber, der ihn bei der Inquisition anzeigte, von der er 1592 verhaftet und nach Rom gebracht wurde. Gegen ihn wurde nun keinesfalls kurzer Prozess gemacht, sondern sieben Jahre lang das Verfahren gegen ihn vorbereitet. Ohne Berücksichtigung der Konflikte der Gegenreformation ist sein Schicksal nicht zu verstehen. Ein Zeitgenosse berichtete, Bruno sei nach Meinung des Volkes als Lutheraner verurteilt worden. Zwar wurde im Jahr 2000 vom päpstlichen Kulturrat seine Hinrichtung als Unrecht erklärt. Eine Rehabilitierung oder Anerkennung seiner Lehren ist damit aber nicht verbunden. Für einen Konflikt zwischen Glaube und Wissenschaft lässt sich seine Lebensgeschichte nicht instrumentalisieren, zumindest nicht auf Seiten der Wissenschaft, denn es war eher ein Konflikt zwischen Glaube und Aberglaube.

Galileo Galilei

Noch deutlicher ist der Fall bei Galileo Galilei kein Konflikt zwischen „Wissenschaft“ und „Kirche“, zu dem er meistens stilisiert wird, sondern ein Streit unter Wissenschaftlern und die persönliche Tragik eines geltungsbedürftigen Mannes, der den Bogen überspannt, seinen Gönner beleidigt hat und in die Mühlen konkurrierender römischer Institutionen geraten ist. Dabei ist es ihm trotz allem besser ergangen, als weithin geglaubt wird: Galilei hat nie in einem Kerker der Inquisition geschmachtet, wurde nie gefoltert sondern bekam lediglich in hohem Alter Hausarrest und Veröffentlichungsverbot. Galileo Galilei war durchaus ein ernstzunehmender Wissenschaftler, der sich - anders als sein Zeitgenosse Giordano Bruno - von Alchemie und Astrologie deutlich absetzte. Als 1616 ein Kopernikanisches Buch eines anderen Klerikers von der Inquisition verboten wurde, versicherte der oberste Inquisitor Robert Bellarmin - einer der klügsten Köpfe im Rom der Gegenreformation - in einem persönlichen Brief an Galilei, dass Galilei keiner Lehre abschwören müsse, solange er sie als wissenschaftliche Hypothese ausweise. Mit Kardinal Maffeo Barberini, dem späteren Papst Urban VIII., hatte Galilei einflussreiche Bewunderer und Unterstützer in der Kurie. Sechs mal wurde Galilei in Rom von Papst Urban empfangen, der ihn, ohne Bellarmins Brief von 1616 zu kennen, ebenso wie dieser ermunterte, über das kopernikanische System zu publizieren, wenn er dieses als Hypothese behandle. Ob Galilei recht hat, war damals wissenschaftlich nicht entschieden. Die von vielen Jesuiten bevorzugte Vorstellung von Tycho Brahe, nach der sich Sonne und Mond um die Erde, die übrigen Planeten aber um die Sonne drehen, konnte damals sämtliche astronomischen Beobachtungen ebenso gut erklären. Diese Frage wurde erst 1729 von James Bradley mit der Entdeckung der stellaren Aberration geklärt.

Galileis Schrift von 1630 „Dialog über die zwei wichtigsten Weltsysteme, das Ptolemäische und das Kopernikanische“ war vor diesem Rahmen eine glatte Provokation. Nicht nur, dass die Schrift in der Volkssprache italienisch statt dem Latein der Gelehrten erschien und somit auf eine Breitenwirkung angelegt war, sondern auch, dass er das eigentlich konkurrierende Modell von Tycho Brahe überhaupt nicht erwähnte, sondern statt dessen gegen den auch damals überholten Ptolemäus polemisierte, kennzeichnet die Schrift eher als populäre Kampfschrift im Ringen um die Deutungsmacht denn als wissenschaftlichen Fachbeitrag. Überzogen hat Galilei aber vor allem auch darin, die Argumente seiner Gegner einer Karikatur seines päpstlichen Gönners Barberini/Urban in den Mund zu legen, der unter dem Namen „Simplicius“ als Einfaltspinsel dargestellt wird. Darüber hinaus beging Galileo Galilei den Fehler, ein internes Kompetenzgerangel zwischen den verschiedenen römischen Behörden der Indexkongregation, Meister des Heiligen Palastes, der Inquisition und dem Papst für sich ausnutzen zu wollen. Die Bitte um die kirchliche Druckerlaubnis für seine Schrift richtete er statt an das eigentlich zuständige Heilige Offizium an den Meister des Heiligen Palastes. Während der Papst die Schrift erst noch selbst durchsehen wollte, hatte Galilei die Druckerlaubnis schon in der Tasche und schritt in Florenz zur Tat. Den Kredit des einstigen Freundes und Bewunderers Urban hatte Galilei damit verspielt. Zudem musste Urban nun, um noch einen Rest seiner Autorität zu retten, mit aller Schärfe gegen seine unbotmäßigen Untergeben und damit auch gegen Galilei vorgehen – mit den bekannten Folgen: Ächtung des Werkes und Hausarrest für Galilei. Der Historiker Peter Godman, der die Vatikanischen Archive eingehend untersucht hat, kommt zu dem Schluss, dass dieser Prozess letztlich eine Niederlage des Papstes war. Galilei blieb die langlebige Legende vom Märtyrer in den Händen der römischen Inquisition. Das eigentliche Opfer sei weder der vertrauensselige Autor Galilei, noch der unkluge Zensor Urban VIII., sondern Robert Bellarmin.[7] Hans Conrad Zander argumentiert,[8] Galileis Inquisitor Robert Bellarmin habe damals dem modernen wissenschaftlichen Ideal näher gestanden als Galilei, indem er darauf bestand, dass jede wissenschaftliche Behauptung nur Hypothese sein dürfe, während Galilei im Rausch seines Erfolges jegliche Vorsicht fahren ließ und in kranker Selbstüberschätzung Hypothesen mit Fakten verwechselte. Dabei war vieles an seinen Thesen und Behauptungen auch falsch. Das Fernrohr hat nicht er erfunden, sondern die Niederländer. Die Kometen interpretierte er als erdnahe Effekte, weil sie sein System der auf Kreisbahnen sich bewegenden Himmelskörper gestört hätten. Grundsätzlich falsch ist auf jeden Fall das verbreitete Bild, eine wissenschaftsfeindliche weil dogmenverhaftete Kirche hätte mit der Verurteilung Galileis längst bewiesene wissenschaftliche Fakten geleugnet. Bewiesen war damals noch nichts und die Hintergründe des Streites lagen in römischer Lokalpolitik.

Fazit

Die Wahrheit ist vielschichtiger als schlichte Klischees es suggerieren. Christlicher Glaube und Wissenschaft stehen in keinem grundsätzlichen Konfliktverhältnis. Es gibt viele Wissenschaftler, die ihren christlichen Glauben mit ihren wissenschaftlichen Forschungen sehr gut vereinbaren können. Sogar Galileo Galilei war einer von ihnen, denn er war und blieb trotz des Konfliktes Glied seiner Kirche und hat seinen christlichen Glauben nie in Abrede gestellt.

Harald Lamprecht

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