Harry Potters "Geheimwaffe"

6. Band: Harry Potter and the Half-Blood-Prince
Es ist wieder soweit: eine neuer Band von Harry Potter steht in den Regalen der Buchhändler. Zunächst nur auf englisch, die deutsche Übersetzung folgt am 1. Oktober rechtzeitig zum Weihnachtsgeschäft. Dann ist auch hierzulande mit größerem Medienrummel zu rechnen, denn der Verkaufsstart der englischen Ausgabe war wieder einmal rekordverdächtig: 6,9 Mill. Exemplare wurden allein in den USA bereits in den ersten 24 Stunden verkauft und auch in England sollen 13 Bücher pro Sekunde über die Ladentische der Buchhandelskette „WH Smith“ gereicht worden sein. Laut einer Umfrage kennen 100 Prozent der 6-16jährigen Kinder und Jugendlichen in Deutschland Harry Potter. Bundeskanzler Gerhard Schröder ist hingegen nur 81 Prozent des Nachwuchses ein Begriff. (FAZ 17.7.2005)

Bekanntes und Neues

Der Rahmen der Handlung steht seit dem ersten Band fest: Harry verlebt ein weiteres Jahr an der Schule in Hogwarts, muss die Macken der Lehrer ertragen, im Quidditch-Turnier sein Bestes geben und gegen die Bedrohung durch den bösen Zauberer Voldemort aktiv werden. Mit diesem befindet sich die Zaubererwelt nun im offenen Kriegszustand, der sich ähnlich schwierig wie der Feldzug gegen den internationalen Terrorismus in der Gegenwart gestaltet. Ausufernde Sicherheitsmaßnahmen gibt es jedenfalls innerhalb wie außerhalb der Buchdeckel.

Neu in diesem Band ist - dem Alter der Handlungsträger entsprechend - der größere Anteil an Liebesgeschichten. Auch wenn fehlgeleitete Liebestränke für Verwirrung sorgen können, bleibt doch alles im gesitteten Rahmen. Insgesamt ist Harry erwachsener geworden, agiert selbständiger auch ohne seine Freunde und bleibt seinen Prinzipien selbst gegenüber dem Minister treu.

Religionslos

Harry Potter ist kein christliches Buch. Gott und Jesus, überhaupt Religion spielt darin keine Rolle. Es ist ein deutliches Zeugnis des säkularisierten Zeitgeistes oder des Lebenshorizontes der Autorin, dass ihre jugendlichen Protagonisten sich darüber scheinbar keine Gedanken machen. Besonders deutlich wird dies beim Thema Tod und Sterben, das auch in Band 6 wieder deutlichen Raum einnimmt. Angesichts des Todes geliebter Menschen stellt sich die Frage nach dem Danach, nach dem Verhältnis zu Gott, nach Zeit und Ewigkeit mit besonderem Nachdruck. Diese Szenen des Buches sind es auch, in denen die religionslose Leere extrem auffällig ist. Gerade das groß inszenierte Begräbnis am Schluss des Buches zeigt die gleiche Sprachlosigkeit wie die heutige säkulare Normalkultur.

Liebe im Zentrum

Andererseits ist Harry Potter auch nicht unchristlich. Im Gegenteil: das Christentum zutiefst prägende Einsichten werden (allerdings wie gesagt ohne direkten Bezug auf Christus) nachdrücklich formuliert. Dazu gehört die Erkenntnis, dass die einzige Macht, die das Böse besiegen kann, die Liebe ist. Schon einmal in den ersten Bänden wurde dies festgestellt: Die Liebe seiner Mutter war so stark, dass sie selbst stellvertretend für ihn gestorben ist. Dies hat Harry mit einem Schutz versehen, der selbst für den mächtigen Voldemort als Inbegriff des Bösen unüberwindlich war und zu dessen eigener Zerstörung führte. Die Parallele zum Liebesopfer Christi zur Erlösung der Menschheit ist frappant. Sie auch zu ziehen bleibt Aufgabe einer christlichen Interpretation von Harry Potter.

In Band 6 wird dies nun in Bezug auf Harry selbst wiederholt: Seine besondere Kraft, die es ihm ermöglichen soll, den wieder an die Macht gekommenen Voldemort zu besiegen, ist nicht irgendeine Wunderwaffe, nicht eine besondere magische Kraft oder Technik, sondern einzig seine Fähigkeit zu lieben. Umgekehrt ist genau dies, die Unfähigkeit zur Liebe, das entscheidende Faktum, das Voldemort zu einer solchen Verkörperung des Bösen hat werden lassen. 

Biografie des Bösen

Band 6 betreibt in weiten Teilen eine Dekonstruktion des Bösen. War in früheren Bänden die von Voldemort ausgehende Gefahr in ihrer hintergründigen Bedrohung und ungreifbaren Gewalt gelegentlich zu einem gleichsam satanischen Prinzip gesteigert, so wird dies nun zerlegt und bekommt ein menschliches Schicksal. Voldemort erscheint nicht mehr als quasi dämonische und zeitlose Verkörperung des bösen Prinzips. Statt dessen wird seine Biografie historisch und psychologisch aufgeschlüsselt.

Hinter dem, dessen Name nicht genannt werden darf, weil mit ihm so viele Untaten verknüpft sind, steht Tom Riddle jr., ein konkreter Mensch aus extrem schwierigen sozialen Verhältnissen, aufgewachsen unter erniedrigenden Bedingungen in einem Waisenhaus, ohne Freunde, aber mit einem Hang zur Dominanz und zur Unterdrückung anderer. Die schwere Kindheit weckt durchaus Mitgefühl, dient aber nicht zur Entschuldigung seiner sozialen Defizite - schließlich ist Harry Potter ebenfalls als Vollwaise unter ganz ähnlichen Bedingungen aufgewachsen. Was ihn zu solch einer Verkörperung des Bösen werden ließ, war nicht seine Herkunft, sondern sein hinterhältiger und allein von egoistischen Motiven bestimmter Umgang mit den Mitmenschen, gepaart mit dem Wahn, unsterblich werden zu wollen. Die Ermangelung von Liebe jedweder Form in seinem Bewusstsein ist sein teuflischster Zug - und zugleich seine größte Schwäche. Dass die sanfte Macht der Liebe letztlich allein in der Lage ist, das Böse zu überwinden, ist Grundzug vieler Märchen und wird auch hier angedeutet, wenn auch (noch) nicht konkret ausgeführt.

Parallelwelt

Die Sorgen mancher Christen, dass Harry Potter dem Bösen Vorschub leiste, indem er zu Magie und Zauberei verführe, sollten nicht zu leichtfertig beiseite geschoben werden. Berechtigt an ihnen ist, dass es in der Tat Bemühungen aus neuheidnischen und esoterisch Interessierten Kreisen gibt, die Potter-Begeisterung zur Werbung für ihre Weltbilder auszunutzen.

Allerdings gilt auch im 6. Band, dass das Weltbild der Potter-Bücher selbst weder esoterisch noch neuheidnisch ist. Stattdessen entwirft die Autorin wie in den vorangegangenen Bänden eine phantastische Parallelwelt, die in fast allen Bereichen der menschlichen Welt entspricht. Darin gibt es gute und böse, schöne und hässliche, kluge und dumme Figuren. Dass diese als „Zauberer“ und „Hexen“ bezeichnet werden, bedeutet lediglich, dass sie zu dieser Parallelwelt gehören und impliziert keinerlei theologische oder ethische Bewertung. Nicht einmal die Fähigkeit zur Anwendung von Magie dient als Unterscheidungskriterium, denn es gibt auch unter den Zauberern sogenannte Squibbs, die keine magischen Kräfte besitzen. Die traditionelle kirchliche Gleichsetzung von Magiern und Zauberern mit Handlangern und Bundesgenossen des Bösen passt jedenfalls nicht auf die Phantasiewelt bei Harry Potter. Das gilt es zu sehen. Deswegen ist aber nicht einfach die Magie gut. Gut und Böse entscheidet sich - das ist ein pädagogisch wertvoller Grundzug in den Potter-Büchern - generell nicht an äußeren Elementen wie Herkunft, Fähigkeiten, Gruppenzugehörigkeit oder Aussehen, sondern allein an den eigenen Handlungen, an den Entscheidungen, die jede Person in den verschiedenen Lebenssituationen eigenverantwortlich trifft. Die Verführung zum Bösen ist da, aber man kann sich ihr widersetzen, wie Harry und seine Freunde immer wieder demonstrieren.

Zwei Bereiche der menschlichen Wirklichkeit fehlen in Harry Potters Paralleluniversum. Die erste ist wie bereits erwähnt die Religion. Es gibt zwar Reste christlichen Brauchtums im Zusammenhang mit dem Weihnachtsfest, aber keine speziell gearteten religiösen Perspektiven - weder christliche, noch zu anderen Religionen tendierende. Die zweite Fehlstelle betrifft die Technik. Ihre Rolle übernimmt die Magie. Sie ersetzt alles, was in der Welt der sogenannten Muggel mit Technik erledigt wird (Kommunikation, Transport, Arbeitserleichterungen etc.). Damit ist das Verständnis von Magie bei Harry Potter meilenweit entfernt von der Magie-Vorstellung moderner neuheidnischer Magier und Hexen. Neuheiden rechtsextremer Prägung geben statt dessen das Vorbild für die gefürchteten Todesser, die Handlanger von Lord Voldemort, ab.1

Wahrsagen desillusioniert

Spannend ist in diesem Zusammenhang die Entwicklung der Position zur Wahrsagerei. In den früheren Bänden war das esoterische Orakelwesen in Gestalt von Prof. Trelawny Gegenstand ausgesprochen spöttisch-distanzierter Darstellung. In Band 5 wurde diese Linie etwas verlassen, indem plötzlich eine Prophezeiung tragende Bedeutung für die Handlung erhielt und deutlich als authentische spirituelle Erfahrung von der sonstigen Kaffeesatzlese-Quacksalberei abgesetzt wurde. Diese Prophezeiung spielt auch in Band 6 eine Rolle, wird aber ihrer magischen Bedeutung entkleidet und ihrer schicksalsbestimmenden Wirkung beraubt: Sie ist nichts anderes, als eine offenbar ganz passende Beschreibung von Möglichkeiten. Real werden diese nur, wenn auch jemand an sie glaubt. Hier hat die Autorin noch einmal die Notbremse gezogen. Auch in einem anderen Bereich wird Magie relativiert. Es treten schwere Verletzungen auf, die auch die Fachleute für magische Erkrankungen nicht heilen können und die Leser müssen lernen, dass auch die Magie Grenzen hat. Man kann dies vielleicht als eine Absage an die Technikgläubigkeit innerhalb der Magierwelt verstehen.

Wie weiter?

Noch nie war in einem Harry-Potter-Band der nächste schon so deutlich vorgezeichnet und doch zugleich so offen. Ob Harry überhaupt nach Hogwarts zurückkehren wird, ist ungewiss. Das Ende schreit förmlich nach Fortsetzung im nächsten -und letzten Band der Reihe. Dieser muss das große Finale bringen. Der kommerzielle Erfolg ist ihm darum sicher. Ob es auch ein literarischer Genuss wird, bleibt abzuwarten.

Harald Lamprecht

1. Auffällig ist die Parallelität bis in die Rhetorik z.B. auf www.thepaganfront.com.

Artikel-URL: https://www.confessio.de/artikel/141

Dieser Beitrag ist erschienen in Confessio 4/2005 ab Seite 07