Pfarrerbild im Wandel

Erfahrungen zum Umgang mit Strukturveränderungen in den Gemeinden beim 3. Ökumenischen Pastoralkolleg

Die gesellschaftlichen Entwicklungen haben die Arbeit in der Gemeinde sehr verändert. Demografischer Wandel, Mitgliederrückgang, Entvölkerung sind Schlagworte, die einen Schrumpfungsprozess beschreiben, wie er viele ländliche und kleinstädtische Gemeinden betrifft. Welche Auswirkungen hat dies für das Berufsbild des Pfarrers? Wie kann die Arbeit insbesondere im ländlichen Bereich gestaltet werden, so dass sie Freude bereitet und Gemeinde aufgebaut wird?
Diese Fragen betreffen trotz innerer Unterschiede die evangelische und die katholische Kirche in ganz ähnlicher Weise. Darum bot es sich an, beim 3. Ökumenischen Pastoralkolleg des Evangelischen Bundes Sachsen in Meißen im März 2015 auch konfessionsübergreifend gemeinsam darüber nachzudenken.
Im Ergebnis geht es wesentlich um die Balance und die sinnvolle Verzahnung zwischen Region und Ortsgemeinde. Beide Pole sind wichtig und brauchen einander – stärker noch, als dies heute vielfach bewusst ist. Die rückläufigen Ressourcen erlauben es nicht, das volle von Hauptamtlichen organisierte Programm in jedem Dorf aufrechtzuerhalten. Manches muss in der Region konzentriert werden. Andererseits ist die Region allein geistlich tot, wenn sie nicht aus Gemeinden besteht, in denen geistliches Leben vor Ort geschieht. Welche Bereiche kirchlichen Lebens wo sinnvoll angesiedelt sind, ist die eigentliche Gestaltungsaufgabe.

Versorgungswünsche

Eine typische Erwartungshaltung auf dem Land schilderte Pfarrerin Claudia Knepper. All die schönen für die Stadt erdachten Konzepte vom Ehrenamt funktionieren in ihrer traditionell orientierten Landgemeinde nicht. Die Dorfbevölkerung will einen Pfarrer, der vor allem einfach da ist. Gewünscht ist eine Betreuungsstruktur nach dem Bild von dem Hirten und seiner Herde. Mit Anpacken und Tische raustragen zum Gemeindefest ist kein Problem. Aber selbst etwas organisieren? Verantwortung übernehmen? Oder sogar vor anderen laut etwas sagen müssen? Nein, das wäre zuviel verlangt. In dem einen aus ehemals drei Dörfern zusammengewachsenen Ort gibt es drei Kirchen. In jeder sollen unbedingt alle Gottesdienste stattfinden und jeder geht auch nur in „seine“ Kirche. Zusammenlegen kommt nicht in Frage. Alles soll so weitergehen, wie es immer war, keine Experimente bitte. Die Regionalisierung hat für die Dörfer keine Vorteile gebracht. Jugendarbeit und Kirchenmusik gibt es nur noch in der Kleinstadt. Eigentlich sollte dieses kirchliche Zentrum als Leuchtturm in die Region ausstrahlen, aber das Licht schafft es nicht über den Berg.
In der röm.-kath. Kirche in Sachsen treten aufgrund der Diasporasituation ähnliche Probleme noch verschärfter auf. Auch dort wird oft nach dem Muster der Addition agiert: weniger Mitarbeiter sollen mehr an einer wachsenden Zahl von Orten leisten - das Ergebnis ist nicht neuer Segen. Die Gemeinden und auch die Hauptamtlichen sind mental geprägt vom Paradigma der Versorgung. Alles dreht sich um den Priester - aber nicht unbedingt um Christus. Wie können wir es schaffen nicht nur zu versorgen, sondern Menschen in ihren Fähigkeiten zu bestärken? fragte OR Benno Schäffel, Leiter der Personalabteilung im Bistum Dresden-Meißen. Ein stärkeres Engagement der Laien scheint als Schlüssel für viele dieser Probleme am Horizont auf. Aber dem stehen z.T. organisatorische, noch stärker aber mentale Schwierigkeiten entgegen.

Verantwortungsgemeinschaften

In Chemnitz ist eine regionale Abstimmung in Gang gekommen, die Vorbildwirkung für das ganze Bistum hatte. Derzeit gibt es vier Pfarreien mit ca. 7000 Katholiken. Eine Gemeinde konnte ihre Immobilienlast nicht mehr tragen, eine andere wollte einen Kindergarten bauen. Als diese sich zusammen setzten um zu fragen, was auf Stadtebene gemeinsam sinnvoll erscheint, entdeckten sie eine erstaunliche Vielfalt katholischen Lebens in der Stadt, die nicht im eigenen planerischen Horizont lag: neben den Pfarrgemeinden gibt es die Caritas, Ordensgemeinschaften, Beratungseinrichtungen etc. All dieses Einrichtungen aufeinander zu beziehen ist das Ziel der sog. „Verantwortungsgemeinschaften“ die nun nach dem Chemnitzer Vorbild überall im Bistum gebildet werden. Dabei mehr Raum zu lassen für das Engagement von Laien ist eine durchgängige Absicht und es gibt eine Reihe positiver Erfahrungen zu berichten.

Geistlich-missionarische Grundlage

Beeindruckend war für die Teilnehmer des ökumenischen Pastoralkollegs, wie Bischof Dr. Heiner Koch die Umstrukturierungsprozesse unter ein geistliches Anliegen brachte: Kirche ist kein Selbstzweck. Sie soll die Stadt auf dem Berg sein, ein wahrnehmbares Zeichen für ihre Umgebung, eine Sendungskirche. In Ostdeutschland sind 80% der Einwohner ungetauft. Zu ihnen ist die Kirche geschickt. Sie sind ihre Aufgabe. Die meisten von ihnen haben die Kirche und den christlichen Glauben nicht aktiv abgelehnt, sondern nie wirklich kennengelernt. Der christliche Glaube ist nicht in erster Linie ein System von Lehren, die man für wahr hält, sondern ein Beziehungsgeschehen. Erkenntnisse aus der Neurobiologie verweisen darauf, dass sich das Gehirn anhand der umgebenden Lebenswelt formt. Das gilt auch für religiöse Erfahrungen. Lernen ohne Begeisterung ist dem Gehirn strukturell nicht möglich. Glaube wird darin nur seinen Platz finden, wenn er als wichtig und begeisternd erlebt wird. Begeisterung wird nur ausgelöst, wenn jemand da ist, der mir wichtig ist. Daraus folgt, dass Glaube nur vermittelt werden kann, wenn die Glaubenden nahe und verbunden mit den Nichtglaubenden sind.
Das große Leitziel der kirchlichen Arbeit im Bistum ist, dass jeder dieser 80% der nichtchristlichen Einwohner etwas von Jesus gehört hat. Diesem Ziel müssen alle kirchlichen Strukturen dienen und sie sind auf ihre Tauglichkeit hin für dieses Ziel zu befragen.

Der ländliche Raum

Bei alledem agiert die Kirche innerhalb der Rahmenbedingungen, die durch die gesamtgesellschaftliche Entwicklung vorgegeben sind. Zu dieser Entwicklung gehört als durchgehender Grundzug die Urbanisierung, d.h. die Verstädterung unserer Lebensstrukturen und die Landflucht. Mit farbigen Karten illustrierte Dr. Thomas Schlegel, Oberkirchenrat der EKM diese gesellschaftlichen Verschiebungen, die im Wesentlichen mit der Industrialisierung, den Arbeitsplätzen und Verkehrswegen zusammenhängen, weil die Landwirtschaft keine nennenswerten Arbeitskräfte mehr bindet. Dazu tritt, dass das Durchschnittsalter in den Kirchen 10 Jahre über dem Durchschnittsalter der Bevölkerung liegt. Die Regionalisierung ist kein Allheilmittel, denn sie ist oftmals eine Mogelpackung und keine wirkliche Innovation - es wird einfach die traditionelle Kirchlichkeit auf eine größere Region bezogen fortgeschrieben. Die Bildung von Regionen ist wirtschaftlich, aber nicht lebensweltlich motiviert. Funktionierende Regionen können nicht vom Stellenplan her konstruiert, sondern nur re-konstruiert werden, indem nach bestehenden Gemeinsamkeiten gesucht wird, die auch eine gemeinsame Identität ermöglichen. Die Parochie darf nicht in der Region aufgehen, denn die Region braucht kleinere überschaubare Einheiten und Identifikationspunkte vor Ort. Eine Zentralisierung auf Kosten der Peripherie ist auf lange Sicht nicht zielführend.

Dorfkirchen als Kristallisationspunkte

Wenn man Kirche konsequent von ihrem Auftrag her denkt, das Salz der Welt zu sein, so gehört eine spürbare Außenwirkung unmittelbar dazu. Die vielen Kirchengebäude im ländlichen Raum sind durch die Bauunterhaltungskosten ohne adäquate Nutzung für die Kirchenämter oft eine Last. Aber in ihnen liegen auch Chancen, denn zum Erhalt der eigenen Dorfkirche finden sich oft erstaunliche Allianzen auch unter Einwohnern, die keine Kirchenmitglieder sind. Dorfkirchen sind Haftpunkte sozialer Identität mit extem hohem Symbolwert. Betriebswirtschaftlich müsste man viele von ihnen schließen. Aber unter strukturellem und missionarischem Aspekt können sie ein wichtiges Bindeglied sein, wo Kirche mit Menschen außerhalb der Gemeindekreise in Kontakt kommen kann. Es gibt Beispiele, wo umgebaute Dorfkirchen mit einem multifunktionalen Nutzungskonzept zum Mittelpunkt des Dorfgemeinschaftslebens und zum kulturell-geistlichen Zentrum einer Region geworden sind.1 In England haben nach der Schließung von Postfilialen Kirchgemeinden für zwei Stunden am Vormittag diesen Service in der Kirche angeboten und sind damit neu zum Begegnungsort geworden. In der Peripherie fehlen oftmals öffentliche Orte - diese sind aber wichtig, um z. B. Versammlungen abzuhalten und Demokratie einzuüben. Geöffnete Kirchen können dabei neu wichtig werden.

Das Modell von Poitiers

Die Kirche ist aber nicht in erster Linie ein Gebäude oder eine Struktur von Hauptamtlichen, sondern eine Gemeinschaft von Glaubenden. Im französischen Bistum Poitiers stand eine der üblichen Strukturreformen an. Der Bischof wollte aber nicht zentralisieren, sondern auf die Nähe vor Ort setzen. Dazu hat er sich von den Basiskirchen in Lateinamerika inspirieren lassen, wo sich Christen ohne Hauptamtliche vor Ort organisieren. Daher wurden für die drei wesentlichen Dimensionen der Kirche martyria (Zeugnis), leiturgia (Gottesdienst) und diakonia (Hilfe) aufgeteilt. Jeweils fünf ehrenamtliche Personen sollen sich vor Ort darum kümmern, dass diese Dimensionen von Kirche lebendig bleiben. Zwei von ihnen werden vor Ort gewählt, drei von einer Bistumskommission je nach Fähigkeiten und Interessen ausgewählt und berufen. Sie alle werden in einem Gottesdienst in der Kathedrale vom Bischof in ihr Amt zur Leitung dieser Basisgemeinde für die Dauer von drei Jahren eingesetzt. Es ist nur eine Wiederwahl zulässig, um auf diese Weise die Verantwortung auf möglichst viele Schultern zu verteilen. Im Effekt entspricht dies einer Umkehrung des Modells: die Ehrenamtlichen haben nicht mehr dem Priester zuzuarbeiten, sondern anders herum: Der Priester reist zu diesen Basisgemeinden innerhalb seiner Pfarrei und gibt ihnen Hilfe und Unterstützung. Er ist als der Experte für Theologie und Sakramente gefragt. Anderes können die Christen vor Ort selbst besser entscheiden. Und was besonders wichtig ist: die Kirchen vor Ort werden nicht geschlossen, sondern mit geistlichem Leben gefüllt.
Insgesamt hat das Modell von Poitiers das kirchliche Leben stark befruchtet. Die Erfahrung besagt: Es sind nicht die Christen, die fehlen, sondern das Vertrauen, das man ihnen entgegenbringt. Ernst zu nehmen, dass in der Taufgnade auch die prinzipielle Befähigung liegt, den Glauben aktiv zu leben und Verantwortung zu übernehmen, fällt oftmals schwer.

Pfarrerbild

Die Umstellungen eines solchen Modells betreffen nicht nur die Ehrenamtlichen, die nun in eigene Verantwortung als Volk Gottes gerufen werden, sondern auch die Hauptamtlichen, deren Arbeitsstruktur sich grundlegend verändert. Sie sind nicht mehr der Hirte und professionelle Nachbar, sondern der Mentor und Fachberater, nicht mehr der Alleinunterhalter, sondern der Coach und Trainer für diejenigen, die in der Gemeinde Verantwortung übernehmen. Erfahrungen zeigen, dass jüngere Theologinnen und Theologen mit einem solchen veränderten Rollenverständnis weniger Probleme haben, als altgediente Pfarrer.

Ehrenamt auf dem Land

Zwar nicht das Modell von Poitiers, aber analoge Überlegungen aus dem sächsischen Raum hatte Pfr. Dr. Kinder vom evangelischen Kirchspiel Liebschützenberg zu berichten. Die Erfahrung dort besagt, dass es für das eigene Dorf kein Problem darstellte, Freiwillige für Besuchsdienst zu finden, aber in das Nachbardorf gehen sie nicht. So wurden in jedem der vier Dörfer verschiedene Ämter belebt und ehrenamtlich besetzt: Lektor für Gottesdienste, Kurator für das Kirchengebäude, Küster zur Vorbereitung der Gottesdienste, Lehrer für Kindergruppen, Leiter zur Koordination zwischen den Gruppen, Diakonie für Notlagen in der Gemeinde, Älteste zur Gemeindeleitung gegenüber der Region, den Verkündigungsmitarbeitern und der Öffentlichkeit. Auf diese Weise ist geistliches Leben im sozialen Nahraum organisiert. Andere Bereiche des Gemeindelebens sind eher in der Region verankert: Konfirmandengruppen, Chöre, Rüstzeiten, weil dafür eine Mindestteilnehmerzahl für das Erfolgserlebnis entscheidender ist als der Ortsbezug.
Wichtig ist: diese Erfahrungen sind ein Modell für den konkreten Ort, keine Schablone, die überall genauso anzuwenden wäre. Wichtiger als jedes Modell ist es, im Gespräch mit den Menschen im eigenen Dorf herauszufinden und zu entwickeln, was sie wollen, können und brauchen. In jedem Fall braucht es aber die Offenheit und den Blick dafür, in den Gemeindegliedern die Gaben zu entdecken, die in ihnen schlummern. Der Pfarrer ist dann nicht mehr der Motor der Gemeinde, der alles ziehen muss, sondern die Zündkerze, die das vorhandene Kraftstoffgemisch zur Aktivität anregt.

Harald Lamprecht

 

 

Artikel-URL: https://www.confessio.de/index.php/artikel/335