Was macht eine Gruppe zur „Sekte“?

Begriffsklärungen zwischen „Sekte“ - Religiöse Sondergemeinschaft - konfliktträchtige Gruppierung

Die Bezeichnung „Sekte“ ist sehr geläufig, aber auch sehr mißverständlich. Dieser Begriff ist für eine exakte Beschreibung und einen verantwortungsvollen Umgang nicht geeignet, denn

  • er ist mehrdeutig und darum mißverständlich
  • er ist ein polemischer Kampfbegriff
  • er ist stark pauschalisierend in einem Bereich, der sehr viel Unterscheidungsvermögen erfordert.

Was sind die verschiedenen Bedeutungsinhalte, die den Begriff „Sekte“ so mißverständlich werden lassen?

  • Der theologische Sektenbegriff (traditionell)
  • Der ethische Sektenbegriff (umgangssprachlich)
  • Probleme

 

1. Der theologische Sektenbegriff

Von seinem Ursprung her ist der Sektenbegriff religiös geprägt. Er entstammt der Auseinandersetzung um die religiöse Wahrheitsfrage.

Sprachgeschichtlich kommt er von dem lateinischen Wort „sequi“ („folgen“, „nachfolgen“) und diente zur Bezeichnung von Angehörigen (Nachfolgern) bestimmter religiöser oder politischer Richtungen und Programme. Wirkungsgeschichtlich bedeutsamer wurde aber die Herleitung von dem lateinischen „secare“ („trennen“, „abschneiden“). Nach diesem traditionellen Verständnis ist eine Sekte eine Gruppe, die sich wegen einer (religiösen) Lehrmeinung von einer anderen, meist größeren und vorherrschenden Religion abgespalten und abgesondert hat.

Ein solcher Vorgang der Spaltung um des Festhaltens an der religiösen Wahrheit willen (die freilich von den Kontrahenten verschieden betrachtet wird) hat es in allen Religionsgemeinschaften in der Geschichte immer wieder gegeben und zur Entstehung von neuen Gemeinschaften geführt, die heute meist nicht mehr als „Sekte“ bezeichnet werden, weil sich die Frontstellungen verändert haben.

Ein paar Beispiele:

  • Das Christentum selbst begann als eine kleine „jüdische Sekte“ der „Nazarener“: Die ersten Christen waren Juden, die sich von den übrigen Juden davon unterschieden, dass sie erlebt hatten, dass der von allen Juden erwartete Messias in dem Menschen Jesus von Nazaret zu finden war. Diese neue Erkenntnis war ihnen so wichtig, dass darüber die ursprüngliche Gemeinschaft mit dem Judentum zerbrach und eine neue Religion entstand. 
  • In der Reformation prangerte der Mönch Martin Luther einige Mißstände innerhalb der katholischen Kirche an und setzte sich für eine Reform ein. Aus den Auseinandersetzungen entstand zunächst (aus katholischer Sicht) die „Sekte der Lutheraner“, bis sie sich als evangelische Konfession neben der römisch-katholischen etablierte. 
  • Ende des 19. Jahrhunderts entstanden etliche Abspaltungen von christlichen Kirchen aufgrund theologischer Sonderlehren, die zur Bildung noch heute aktiver eigenständiger Gemeinschaften führten (z.B.: Berechnung eines Termins der Wiederkunft Christi bei den Siebenten-Tags-Adventisten und den Zeugen Jehovas, neue Offenbarungen bei der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage (Mormonen). 

Aus der Sicht der Ursprungsreligion handelt es sich bei den „Sektierern“ um Abtrünnige, die die gemeinsame Wahrheit verlassen haben. Damit nicht noch mehr Menschen sich diesem - oft als gefährlich angesehenen - Irrglauben anschließen, wurde die neu entstandene Gruppierung meist heftig bekämpft. „Sekte“ ist aus diesem Zusammenhang heraus immer ein Kampfbegriff, ein Schimpfwort und Teil einer polemischen, oft auch überhitzten und unsachlichen Auseinandersetzung.

Gegenwärtig wird von kirchlicher Seite dieser theologisch bestimmte Sektenbegriff nur noch sehr selten und mit großer Zurückhaltung verwendet. Die inhaltliche Auseinandersetzung um konkurrierende religiöse Wahrheitsansprüche ist nach wie vor nötig. Aber sie muss auch auf der theologischen Ebene erfolgen und mit anderen Mitteln geführt werden, als dies in der Vergangenheit oft geschah. Darum ist der Begriff „Sekte“ dafür nicht geeignet.

2. Der ethische Sektenbegriff

Eine Sekte ist gefährlich, vor ihr muss gewarnt werden. Das gilt damals wie heute. Worin aber das Gefährdungspotenzial besteht, wird gegenwärtig meist anders gesehen als früher. Als „Sekten" werden Gemeinschaften bezeichnet, die von allgemein anerkannten Maßstäben abweichen. In der heutigen pluralistischen Gesellschaft gibt es allerdings kaum noch allgemein anerkannte Wahrheiten, und schon gar nicht religiöse Wahrheiten mehr. „Folglich sind die Sektierer heute für die Öffentlichkeit nicht mehr diejenigen, die vom religiös Anerkannten abweichen. Sektierer sind diejenigen, die von den noch existierenden gemeinsamen Überzeugungen abweichen – und das sind fast nur noch ethische Überzeugungen, die den Umgang mit Menschen betreffen. Unsere Kultur beruht auf einem nicht religiös, sondern ethisch begründeten Humanismus, auf starken Überzeugungen, die festlegen, wie menschlich mit Menschen umzugehen ist und wie ein „gutes Leben“ für einen Menschen aussehen sollte. Begriffe wie Menschenwürde, Menschenrechte, Freiheit, Toleranz, Selbstentfaltung, Selbstverwirklichung bezeichnen die Orientierungspunkte, an denen akzeptables Handeln gemessen wird. Daher bezieht sich der Begriff „Sekte“ in der Umgangssprache immer mehr auf Gruppen, die in Lehre und Praxis systematisch gegen diese Orientierungen verstoßen, die statt Entfaltungsfreiheit Abhängigkeit produzieren, die Menschen entwürdigen und zur Intoleranz anleiten usw." (1)

Die umgangssprachliche Verwendung zielt also gerade nicht auf die Lehre einer Gruppe. Auch offensichtlich abstruse Lehren sind im Rahmen einer allgemeinen Toleranz zulässig. „Sekte“ im umgangssprachlichen Sinn soll statt dessen ausdrücken, dass es im Umfeld dieser Gemeinschaften verstärkt zu Konflikten und Gefährdungen kommt. Der Begriff dient zur faktisch zur Beschreibung der Konfliktneigung von Gruppierungen – unabhängig von deren religiösen oder weltanschaulichen Hintergrund.

Diese andere Füllung des Begriffes hat Konsequenzen. So werden im umgangssprachlichen Sinn auch Gemeinschaften als „Sekten“ bezeichnet, die im engeren Sinn gar keine religiösen Bezüge aufweisen, aber gehäuft zu Konflikten führen und z. T. einen destruktiven Einfluss auf ihre Anhänger ausüben.

Beispiele:

  • Zunehmend wird in den Beratungsstellen nach den Geschäftspraktiken von Multi-Level-Marketing-Unternehmen gefragt, die aufgrund ihrer Gruppenstrukturen, mentalen Manipulationsmechanismen und häufigen negativen Folgen für Einzelne in diesem umganssprachlichen Sinn als „Sekte“ erscheinen. 
  • In der Auseinandersetzung mit Scientology stehen nicht die aufgesetzten „religiösen“ Elemente im Vordergrund, sondern die Auswirkungen des totalitären Systems auf den Einzelnen und die Gesellschaft. 

Eigenschaften und Verhaltensweisen, die eine Gruppe „versekten“ und in diesem Sinn zu einer „konfliktträchtigen Gruppierung“ werden lassen, sind in den „Merkmalen für konfliktträchtige Gruppierungen“ genannt.

Probleme

Aus der geschilderten Doppeldeutigkeit des Sektenbegriffes ergeben sich schwere Probleme bei seiner Anwendung. Nie ist klar, in welcher Hinsicht in einem speziellen Fall von „Sekte“ gesprochen wird - ob im Sinn von „Religiöser Sondergemeinschaft“ mit besonderen diskussionsbedürftigen Lehrauffassungen, oder im Sinn von „konfliktträchtiger Gruppierung“ mit problematischen Verhaltensweisen. Beide Aspekte können zwar im Einzelfall zusammenkommen, müssen es aber nicht und tun es in vielen Fällen auch nicht.

Beispiele:

  • Wenn etwa die Gemeinschaft der Siebenten-Tags-Adventisten in traditionell theologischem Sinn als „Sekte“ bezeichnet würde, weil sie eine Abspaltung darstellt und von der evangelischen Kirche abweichende Glaubensauffassungen vertritt, so hören viele darin etwas ganz anderes und meinen, bei den Adventisten gebe es Psychoterror, subtile Manipulationsmethoden oder Behinderungen eines Austrittes. Dies stimmt aber in Bezug auf die Adventisten üblicherweise nicht. 
     
  • Auf der anderen Seite machen sich andere Gemeinschaften wie z. B. Scientology, die wegen ihrer Ethik in der öffentlichen Kritik stehen, diese Doppeldeutigkeit zu nutze und versuchen, sich sich als religiös verfolgte Minderheit darzustellen. 

Darum gilt die Empfehlung, auf den belasteten und uneindeutigen Sektenbegriff nach Möglichkeit zu verzichten und statt dessen präziser von Religiösen Sondergemeinschaften oder Konfliktträchtigen Gruppierungen zu reden. Beide Ebenen der Auseinandersetzung sollten jedenfalls sorgfältig unterschieden werden.

 

Harald Lamprecht

 


Anmerkungen:

 

(1) Hansjörg Hemminger: Was ist eine Sekte?, 2. Aufl. Mainz / Stuttgart 1996, 65.

Dr. Harald Lamprecht

ist Beauftragter für Weltanschauungs- und Sektenfragen der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens und Geschäftsführer des Evangelischen Bundes Sachsen.

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