Neues Haus mit alten Möbeln

Katechismus der Neuapostolischen Kirche erschienen

„Eine Kirche, in der sich Menschen wohlfühlen und – vom Heiligen Geist und der Liebe zu Gott erfüllt – ihr Leben nach dem Evangelium Jesu Christi ausrichten und sich so auf sein Wiederkommen und das ewige Leben vorbereiten“ – mit dieser „Vision“ beginnt der neue Katechismus der Neuapostolischen Kirche, der nach rund zehnjähriger Bearbeitungszeit am 4. Dezember 2012 der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Die Präsentation des neuen Lehrwerkes wurde aus Zürich in zahlreiche Gemeinden direkt übertragen. Dabei gaben die einführenden Bemerkungen von Stammapostel Wilhelm Leber und von weiteren leitenden Amtsträgern Einblicke in Intentionen und Hoffnungen in Bezug auf den neuen Katechismus aus der Sicht der Neuapostolischen Kirche (NAK).

Erste umfassende Lehrdarstellung

Aus der Sicht von Wilhelm Leber liegt die Bedeutung des Katechismus darin, dass er erstmalig eine umfassende Darstellung der Lehre der NAK bietet. Dabei spielten zwei Aspekte eine Rolle: Zum Ersten leben wir aus der Sicht des Stammapostels in einer anspruchsvollen Zeit, in der einfache Antworten nicht mehr genügen. Darum sollte die Lehre detailliert in einer Form dargestellt werden, die sie auch für andere Christen nachvollziehbar werden lässt und es ermöglicht, auf eine Ebene des Austausches und des Gespräches zu kommen.
Zum Zweiten ist es ein mit dem Katechismus verbundenes Anliegen, die Einheit innerhalb der Neuapostolischen Kirche zu stärken und zu erhalten. Offenbar sind die Entwicklungen in den verschiedenen Weltgegenden, in denen die NAK vertreten ist, nicht einheitlich.
In einem vorab aufgezeichneten Interview wurden verschiedene den Katechismus betreffende Themenkreise und Fragen in einer zum Teil erstaunlich direkten Art angesprochen. Interviewpartner waren neben dem Stammapostel die Bezirksapostel Wilfried Klingler (Gebietskirche Mitteldeutschland), Bernd Koberstein (Gebietskirche Hessen/Rheinland-Pfalz/Saarland) sowie der Stammapostelhelfer (und damit designierter Nachfolger im Stammapostelamt) Jean-Luc Schneider (NAK Frankreich).

Glaubensartikel entfaltet

In seiner Grundstruktur lässt sich der Katechismus als ausführliche Entfaltung, Kommentar und praktische Anwendung der neu gefassten Glaubensartikel beschreiben, die bereits 2010 publiziert wurden.1 Immer wieder im Text werden die Glaubensartikel zitiert, bevor dann weitere Erläuterungen angefügt werden. Diese bilden praktisch das Gerüst des Werkes und werden dadurch in ihrer Bedeutung stark aufgewertet. Im Übrigen ist der Katechismus in 13 Kapitel mit unterschiedlichem Charakter gegliedert (siehe Kasten), die sich alle – soweit thematisch möglich – um biblische Referenzen zu dem jeweiligen Themenbereich bemühen. Die ersten vier Kapitel beschreiben zunächst die Glaubensgrundlagen, bei denen ein hohes Maß an Übereinstimmung mit den anderen Kirchen besteht. Kapitel 6 schildert das neue Kirchenverständnis und hat damit eine Scharnierfunktion, bevor dann stärker spezifisch neuapostolische Sichtweisen in den folgenden Kapiteln entfaltet werden.
Alle Kernaussagen der jeweiligen Kapitel sind in einem grau unterlegten Kasten als „Extrakt“ noch einmal zusammengefasst.

Hinwendung zur Theologie

Bei der Beurteilung des Katechismus ist zu bedenken, dass die NAK bislang der Theologie als solcher distanziert kritisch gegenüberstand. Theologische Bildung wurde in dieser Kirche nicht gefördert, sondern eher kritisch beargwöhnt, weil die Ausrichtung auf den Stamm­apostel für ausreichend gehalten wurde. Ein erster Paradigmenwechsel des Katechismus besteht folglich bereits in der Hinwendung zu einem theologisch begründeten Gespräch. Dementsprechend bemühten sich die ersten Fragen, das „hohe theologische Niveau“ und die „theologische Fachsprache“ des Katechismus zu verteidigen. Dies sei notwendig, so Bezirksapostel Koberstein, um den eigenen Glauben umfassend in seiner Einbettung in das allgemeine Christentum zu beschreiben. Ziel sei es, das eigene Profil darzustellen, ohne dass andere Denominationen in ihrem Wert gemindert oder angegriffen werden. Die neue Hinwendung zu theologischer Bildung ist auch am veränderten Sortiment des Verlages Friedrich Bischoff zu erkennen, der vermehrt theologische Studienliteratur anderer christlicher Verlage in seinem Sortiment anbietet.2

Stellung zu anderen Kirchen

Die wichtigste Neuerung ist eine neue grundsätzliche Positionierung der NAK im Verhältnis zu den anderen Kirchen, wie sie im Grundsatz bereits bei der Präsentation der Glaubensartikel erkennbar wurde. Bislang wurde die wahre Kirche Jesu Christi mit der NAK schlicht gleichgesetzt. Nun wird nun im neuen Katechismus explizit erklärt, dass „nicht nur dort Kirche Christi [ist], wo das Apostelamt wirkt …, sondern auch in den anderen Kirchen, wo sich christlicher Glaube in der tätigen Liebe zum Nächsten, im klaren Bekenntnis zu Jesus Christus und im ernsten Bemühen um Nachfolge Christi verwirklicht …“3. Die Kirche Jesu Christi trete dort, „wo das Apostelamt, die Spendung der drei Sakramente an Lebende und Tote sowie die rechte Wortverkündigung vorhanden sind“ lediglich „am deutlichsten zutage“. Die verbleibenden und ökumenisch weiterhin zu diskutierenden Lehrbesonderheiten sind also nicht mehr Bedingungen des Kircheseins, sondern dienen nur noch deren besonderer Verdeutlichung. Damit müssen diese die NAK nicht mehr zwangsläufig in die ökumenische Isolation treiben. Eine solche Neubestimmung ähnelt in ihrer Grundstruktur der Ekklesiologie des Zweiten Vatikanischen Konzils und erlaubt zwischenkirchliche Kontakte.
Bei der Präsentation äußerte der designierte Nachfolger des Stammapostels, Jean-Luc Schneider: „Überall, wo Menschen trinitarisch getauft sind, wird Heil vermittelt.“ Die Öffnung für die Ökumene habe nicht zum Ziel, alle Unterschiede zwischen den Kirchen zu verwischen. Wohl aber könne und wolle man in der grundlegenden Aufgabe des Christseins, Jesus zu bekennen, gern mit anderen Kirchen zusammenarbeiten.
In diesem Zusammenhang steht auch eine vorsichtige Rücknahme des überhöhten Anspruches des Stammapostelamtes zugunsten einer stärkeren Zentrierung auf Jesus Christus. In der Katechismuspräsentation wurde der Punkt herausgehoben, dass es bislang hieß, der Stammapostel sei das Haupt der Kirche und Repräsentant Christi. Im neuen Katechismus hingegen gilt Christus als das Haupt der Kirche, während der Stammapostel als Leiter der Apostel den „Petrusdienst“ ausübe (S. 303f.).

Identitätsfragen

Mit dieser neuen Verortung stellt sich allerdings für die Mitglieder der NAK in stärkerem Maße die Frage nach der eigenen Identität. Warum sollte man noch neuapostolisch sein, wenn das Heil auch z.B. in der evangelischen oder katholischen Kirche zu erlangen ist? Wenn eine Gemeinschaft jahrzehntelang ihre Identität aus der Abgrenzung bezogen hat, muss eine Aufgabe dieser Trennlinie zwangsläufig zu einer Neubestimmung der eigenen Identität führen. Weil ein solcher Vorgang aber Verunsicherung nach sich zieht, ist das Bestreben verständlich, möglichst viel aus der alten Identitätsbestimmung in die Gegenwart hinüberzuretten. Der Katechismus spiegelt dieses Ringen zwischen Öffnung und Bewahrung deutlich wieder. Im Bild gesprochen ist die NAK mit der Neubestimmung des Kirchenverständnisses gleichsam aus ihrer alten vermauerten Trutzburg in ein neues Schloss mit schönen Fenstern umgezogen. Allerdings fehlen weithin die der neuen Architektur angepassten Möbelstücke. Weil man nichts Besseres hat und das Herz in vielen Fällen ohnehin an der gewohnten alten Einrichtung hängt, werden die alten Schrankwände auch im neuen Haus wieder aufgestellt. Je nachdem, worauf man schaut, kann nun das Urteil gänzlich anders ausfallen: Betrachtet man die Flure, die Türen und die neuen Fenster, dann sieht es neu aus. Schaut man hingegen auf den alten Teppich und die alten Schränke, dann scheint alles wie früher.

Geerbte Schränke

Zwei Begriffe stellen so etwas wie besonders liebgewonnene Möbel dar. Auf sie will man wohl wegen der von den Großeltern angebrachten Schnitzarbeiten keinesfalls verzichten, obwohl deren Schubladen bereits so stark klemmen, dass man gar nichts mehr hineinlegen kann, was man noch benutzen möchte. Dies betrifft die Begriffe der „Gotteskindschaft“ und die Rede vom „Erlösungswerk des Herrn“. Auf der Wortebene sind beide Formulierungen eigentlich universell. Von der Schöpfung her betrachtet ist jeder Mensch ein Kind Gottes. Spätestens mit der Taufe kann sich jeder Christ, der das Vaterunser spricht, legitimerweise als Kind Gottes bezeichnen. In der NAK hingegen ist der Begriff des „Gotteskindes“ in der Tradition so stark auf die Mitglieder der eigenen Gemeinschaft bezogen worden, dass an dieser Zuordnung leider auch im neuen Katechismus festgehalten wurde, obwohl dies eklatant der neuen Grundausrichtung widerspricht.
Das „Erlösungswerk des Herrn“ besteht theologisch gesehen in seinem stellvertretenden Leiden und Sterben, womit die Erlösung für alle, die daran glauben, ein für alle Mal vollbracht wurde (Phil. 2). Auch hier hat diese Begrifflichkeit in der Geschichte der NAK eine Engführung auf die eigene Gemeinschaft erfahren, bei der nicht zu sehen ist, wie sie theologisch zu rechtfertigen wäre. Als „Erlösungswerk des Herrn“ wird im neuapostolischen Katechismus der Bereich bezeichnet, „in dem das Apostelamt wirkt“ (S. 282) und „in dem die Braut für die Hochzeit im Himmel vorbereitet wird“ – mithin also nur die NAK. Damit wird - entgegen dem Wortlaut anderer Kapitel - suggeriert, Erlösung gäbe es eben doch nur dort.

Apostelamt und Brautgemeinde

Zentral für die NAK (und damit auch für den Katechismus) ist und bleibt die besondere Betonung des Apostelamtes. Zum Ersten gehört dazu die Erwartung einer speziellen Bevollmächtigung der Amtsträger in Analogie zur Vorstellung des Weihepriestertums im Bereich der röm.-kath. Kirche. Auf dieser Linie liegen eine Reihe von Punkten, die aus evangelischer Sicht kritisch zu hinterfragen sind. So bleiben 1) die Erklärung der Sündenvergebung, 2) die wirksame Einsetzung („Aussonderung“) des Abendmahles und 3) die sakramentale Vermittlung des Heiligen Geistes in der Versiegelung an das Apostelamt bzw. an von Aposteln bevollmächtigte Amtsträger gebunden.
Zum Zweiten wird den Aposteln eine besondere Funktion im Rahmen einer spezifischen Sicht der Heilsgeschichte zugedacht: Ihre besondere Aufgabe sei es, die endzeitliche Brautgemeinde zu sammeln, die bei der Wiederkunft Christi als Braut des Lammes entrückt werden soll und sich dann der sofortigen Gemeinschaft mit Gott erfreuen kann. Diese Beteiligung an der „Hochzeit des Lammes“ wird auch als (speziell) neuapostolisches „Glaubensziel“ bezeichnet. Als „Exklusiv“ will man dies dennoch nicht verstanden wissen. Schließlich würden nach dem 1000-jährigen Friedensreich alle übrigen Menschen im Endgericht vor Christus als himmlischen Richter treten. Dort könnten sie auch noch das Heil empfangen, welches die entrückte Brautgemeinde und diejenigen, die als Märtyrer gestorben sind, bereits genießen. In ökumenischer Hinsicht bleibt diese Konstruktion verschiedener Erlösungsklassen gleichwohl problematisch.
Ein dritter Aufgabenbereich für das künftige ökumenische Gespräch betrifft die „lehramtliche Vollmacht“ des Stammapostels, „neue Einsichten über Gottes Wirken und seinen Heilsplan, die in der Heiligen Schrift zwar angedeutet, aber noch nicht vollständig enthüllt sind“ zu verkündigen und zur verbindlichen Lehre zu erklären. Als Beispiel dafür wird die Lehre von der Heilsvermittlung für Entschlafene genannt. Offensichtlich ist der NAK selbst deutlich, dass die biblische Begründung für diese Praxis nicht ausreicht. Eine Rechtfertigung mit Privatoffenbarungen an Stammapostel ist aber ähnlich abwegig wie die Unfehlbarkeitserklärung des Papstes im Ersten Vatikanischen Konzil.
Aus evangelischer Sicht ist schließlich kritisch anzumerken, dass die Botschaft von der Rechtfertigung des Menschen allein aus Gnade im Katechismus nicht entfaltet wird, sondern hinter den vielfältigen Bedingungen des Apostelwirkens verstellt erscheint.

Ausblick

Es wäre vermessen zu verlangen, dass ein ganzes Schloss sofort komplett neu möbliert sei. Da würden viele alte Bewohner, die an ihrer Umgebung hängen, schlicht nicht umziehen. Ihnen muss man wohl zugestehen, auch stilistisch unpassende Einrichtungsgegenstände zu behalten. Der Stilbruch fällt dann weniger auf, wenn man die Fenster schließt und die Jalousien herablässt. Andere Bewohner des neuen Schlosses werden das nun gerade nicht wollen, sondern gern die Fenster öffnen um die frische Luft zu atmen. Die wünschen sich dann freilich auch eher eine neue Inneneinrichtung. Solange sie diese nicht bekommen können, sollte es ihnen erlaubt sein, die alten dysfunktionalen Kommoden mit einem Tuch und einem Blumenstrauß zu bedecken. Einige ausgewählte antike Stücke kann man in einer Wohnung durchaus verkraften, sie können sogar das Ambiente aufwerten. Aber wer möchte in einem Museum wohnen? Immerhin – das neue Haus enthält sogar Zimmer, die noch gar nicht bezogen sind. Die Frage nach Frauen im Amt wird im Katechismus bewusst nicht behandelt und damit offen gelassen. Bei der Präsentation hieß es, zukünftig sei das durchaus vorstellbar, es gelte aber verschiedene kulturelle Gegebenheiten in der weltweiten Kirche zu beachten.

Mit dem Katechismus liegt jetzt ein Dokument vor, auf dass sich kommende ökumenische Gespräche beziehen können und müssen. Keinesfalls ist der Text Ersatz für solche Gespräche. Texte bleiben immer auf Auslegung angewiesen. Das gilt insbesondere für Kompromissdokumente wie diesen Katechismus oder auch die Dekrete des Zweiten Vatikanischen Konzils. Einen hermeneutischen Schlüssel, der den Blick in die Zukunft öffnet, hat der Katechismus in seinem Vorwort selbst dem Gesamtwerk vorangestellt: „Der Weg zum Heil wird nach den Maßgaben gegenwärtiger Erkenntnis beschrieben. Dies geschieht in dem Wissen, dass Gott in seiner Allmacht über den offenbarten und erkennbaren Weg hinaus Menschen Heil zukommen lassen kann. … Das Aufzeigen der Besonderheiten neuapostolischen Glaubens will andere nicht ausgrenzen oder sich vor ihnen verschließen, sondern kann vielmehr Ausgangspunkt für einen fruchtbaren Dialog mit anderen Christen sein.“

Dr. Harald Lamprecht

ist Beauftragter für Weltanschauungs- und Sektenfragen der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens und Geschäftsführer des Evangelischen Bundes Sachsen.

Artikel-URL: https://www.confessio.de/artikel/294

Dieser Beitrag ist erschienen in Confessio 4/2012 ab Seite 04