Muslime für Minderheitenrechte

Zur Bedeutung der Erklärung von Marrakesch

Um die Rechte von religiösen Minderheiten ist es in vielen mehrheitlich muslimischen Ländern nicht gut bestellt. Von einer anerkannten oder sogar gleichberechtigten Lebensweise kann vielfach keine Rede sein.

Auf Einladung des Königs von Marokko, Mohammed VI, sind im Januar 2016 hunderte muslimische Gelehrte und Intellektuelle aus über 120 Ländern zu einer groß angelegten Konferenz zusammengekommen, um ihre Stimme gegen diesen Missstand zu erheben. Das Abschlussdokument dieser Konferenz wurde als „Marrakesh Declaration“ veröffentlicht und steht in einer ausführlichen arabischen Fassung sowie einer Kurzfassung in englisch, französisch und italienisch auf der dafür eingerichteten Internetseite www.marrakeshdeclaration.org zur Verfügung.

Charta von Medina

Als Verweisgrundlage und innerislamischen Referenzrahmen gilt den Autoren die „Charta von Medina“. Damit sind jene Regelungen gemeint, die gemäß (idealisierter) islamischer Überlieferung der Prophet Mohammed in Yathrib/Medina für das friedliche Zusammenleben der verschiedenen Stämme und Gruppen erlassen haben soll. Die Autoren sehen darin einen Referenzrahmen für nationale Verfassungen in Ländern mit einer Muslimischen Mehrheit, die das Konzept einer Bürgerschaft aufnehmen. Dazu gehören Elemente wie Freiheit der Bewegung, eigener Besitz, gegenseitige Solidarität und Verteidigung, ebenso wie Prinzipien der Gerechtigkeit und Gleichheit vor dem Gesetz. Die Autoren fordern Rechte und Freiheiten für alle religiöse Gruppen auf eine zivilisierte Weise, die Zwang, Voreingenommenheit und Arroganz ausschließt und mehr ist als gegenseitige Toleranz und Respekt.
 

Appelle

In diesem Sinn rufen die Autoren muslimische Gelehrte und Intellektuelle weltweit auf, eine Rechtssprechung zu entwickeln, die auf dem Konzept der Bürgerschaft aufbaut und neben der islamischen Tradition auch globale Veränderungen im Blick behält. Sie drängen muslimische Bildungseinrichtungen, eine kritische Durchsicht der Curricula vorzunehmen und alle Elemente zu entfernen, die zu Aggression und Extremismus anfachen. Sie rufen Politiker und Entscheidungsträger auf, politische und gesetzliche Schritte für verfassungsgemäße vertragliche Beziehungen zwischen den Bürgern zu ergreifen und alle Initiativen zu unterstützen, die das Verständnis zwischen verschiedenen religiösen Gruppen in der islamischen Welt befördern. Künstler und Kreative werden aufgerufen, eine breite Bewegung für eine angemessene Behandlung von religiösen Minderheiten in muslimischen Ländern zu etablieren und das Bewusstsein für deren Rechte zu stärken. Schließlich werden auch die religiösen Gruppen selbst angesprochen, die ihre selektive Amnesie überwinden und sich nicht durch die Erinnerung von Jahrhunderten blockieren sollen. Ein gemeinsames Leben in der Gegenwart erfordert vertrauensbildende Maßnahmen für ein Zusammenleben, das durch Extremisten, Terror und Aggression erodiert ist. So wenden sie sich gegen alle Formen des religiösen Fanatismus und bekräftigen, dass es gewissenlos ist, die Religion zu missbrauchen, um die Rechte von religiösen Minderheiten in muslimischen Ländern anzugreifen.
 

Menschenrechte statt Kairoer Erklärung

Ein bedeutender Punkt des Dokumentes ist der Verweis auf die UN-Charta und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Dies ist insofern von Bedeutung, als 1990 die Organisation der Islamischen Konferenz mit der Kairoer Erklärung ein islamisches Konkurrenzdokument zur Allgemeinen Menschenrechtserklärung vorgelegt hat. Dieses wurde zu Recht viel kritisiert, weil es gerade keine Menschenrechte garantiert. Die Religionsfreiheit kommt darin überhaupt nicht vor und alle anderen Aussagen stehen unter einem allgemeinen Scharia-Vorbehalt. Dass die Erklärung von Marrakesch diese Kairoer Erklärung mit keiner Silbe würdigt, sondern statt dessen auf die UN-Charta und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verweist, ist ein bedeutender Paradigmenwechsel.
 

Wie deuten?

In der Erklärung von Marrakesch wird ausgesagt, die Charta von Medina stimme mit der allgemeinen Menschenrechtserklärung überein. Wie ist das zu verstehen? Zwischen beiden liegen mehr als tausend Jahre bewegter Menschheits- und Kulturgeschichte. Die eine ist ein Produkt der Aufklärung, die andere eine vormoderne Übereinkunft in einem archaischen Rechtssystem und somit historisch und sachlich weit von modernen Gleichheitsvorstellungen entfernt. Sie präsentiert mit dem Dhimmi-Status gerade keine Gleichberechtigung, sondern eine Sonderbehandlung für religiöse Minderheiten. Kritische Interpreten können darin eine Einschränkung erblicken, ähnlich dem Scharia-Vorbehalt der Kairoer Erklärung. Dann würde von den Menschenrechten nur das gelten, was der Charta von Medina entspricht.
 

Übertragungshilfe

So steht es aber gerade nicht im Text. Möglicherweise wollen die in Marrakesch versammelten Gelehrten zum Ausdruck bringen, dass die Charta von Medina einen Weg aufzeigt, der, wenn er konsequent weiter beschritten würde, zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte führt und jene folglich im Licht der Menschenrechtserklärung interpretiert werden soll. Der Verweis auf die Charta von Medina hätte dann weniger normierenden als vielmehr legitimierenden Charakter. Dafür gibt es Gründe. Auf muslimischer Seite wird es oft als Ausdruck europäisch-kolonialer Arroganz aufgefasst, wenn verlangt wird, die Muslime sollten doch erstmal die Aufklärung nachholen. Mit solcher Argumentation würde man in der muslimischen Welt keine große Zustimmung finden, in die hinein die Erklärung aber wirken will. Sie ist keine vordergründige Public-Relations-Aktion gegenüber „dem Westen“, sondern ein wichtiger Beitrag im innerislamischen Diskurs. Umso wichtiger ist da der Verweis auf Elemente der eigenen islamischen Tradition zur Legitimierung der eigenen Aussageabsicht. Dazu dient hier die Charta von Medina.
 

Bedeutung

Die Erklärung von Marrakesch wird wahrscheinlich (leider) nicht unmittelbar dazu führen, dass in Saudi Arabien und Pakistan fortan die Menschenrechte gewahrt werden. Dennoch ist sie ein richtungsweisendes Dokument, dem weite Aufnahme zu wünschen ist.
Die weitgehende Ignoranz deutscher Medien gegenüber diesem Text ist bedauerlich und ein Skandal für sich.

 

Dr. Harald Lamprecht

ist Beauftragter für Weltanschauungs- und Sektenfragen der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens und Geschäftsführer des Evangelischen Bundes Sachsen.

Artikel-URL: https://www.confessio.de/index.php/artikel/341

Dieser Beitrag ist erschienen in Confessio 1/2016 ab Seite 18