Reset-Knopf

Der „Great Reset“

Von nachhaltigen Zukunftsplänen und finsteren Verschwörungsmythen

„‚Der Grosse Neustart‘ ist eine Verpflichtung, gemeinsam und dringend die Grundlagen unseres Wirtschafts- und Sozialsystems für eine gerechtere, nachhaltigere und widerstandsfähigere Zukunft zu schaffen. Er erfordert einen neuen Gesellschaftsvertrag, in dessen Mittelpunkt Menschenwürde und soziale Gerechtigkeit stehen und in dem der gesellschaftliche Fortschritt nicht hinter der wirtschaftlichen Entwicklung zurückbleibt.“

Mit diesen Worten beginnt eine Pressemitteilung des Weltwirtschaftsforums (WEF) vom 3. Juni 2020, in der die Themen für das jährliche Treffen hochrangiger Wirtschaftsvertreter im Januar 2021 in Davos angekündigt werden. Das Dokument verweist auf durch die Pandemie zutage getretene Verwerfungen und die globalen gesellschaftlichen Herausforderungen durch den Klimawandel. Es ruft dazu auf, „einen neuen Gesellschaftsvertrag aufzubauen, der die Würde jedes Menschen ehrt“. „Wir müssen sicherstellen, dass die neuen Technologien in der digitalen, biologischen und physischen Welt weiterhin den Menschen in den Mittelpunkt stellen und der Gesellschaft als Ganzes dienen, indem sie allen einen fairen Zugang ermöglichen.“

Es fällt schwer vorzustellen, was an diesem Aufruf für eine bessere Welt nicht unterstützenswert sein sollte. Etwas Skepsis ist vielleicht nachvollziehbar, dass ausgerechnet die Superreichen in Davos nun den Kapitalismus neu entwickeln und sozialer sowie ökologischer gestalten wollen.

„Shareholder“-Kapitalismus

WEF-Gründer Klaus Schwab möchte das kapitalistische Paradigma verändern weg von einer reinen Orientierung an den Aktionären („Shareholdern“) hin zu allen Betroffenen („Stakeholder“). So hat er voriges Jahr auch Greta Thunberg nach Davos eingeladen. Auch der viele soziale Projekte unterstützende Multimillionär George Soros und Bill Gates sind regelmäßig in Davos dabei. Das Ziel ist klar: Die Weltwirtschaft soll sozialer und grüner werden.

Klaus Schwab hat seine Ideen in einem Buch niedergelegt, dessen Titel „Covid-19: The Great Reset“ bei Verschwörungsideologen enorme Resonanz ausgelöst hat. Gelesen hat es von denen vermutlich kaum jemand. Dennoch – oder deshalb – hat er den Begriff für eine große Verschwörungserzählung geliefert, die sich anschickt, die Polarisierung der Gesellschaft kräftig weiter voranzutreiben.

Meta-Erzählung

Der große Neustart („The Great Reset“) ist dabei, für alle QAnon-Anhänger und weit darüber hinaus zum neuen negativen Identifikationsbegriff zu werden. Nach dem Scheitern der auf Donald Trump bezogenen Messiaserwartungen (vgl. Confessio 3/2020, S. 4) befand sich die QAnon-Bewegung in einer Krise. Mit dem Begriff des „Great Reset“ entsteht nun ein neues Feindbild, das nahtlos an bisherige Erzählungen anknüpft. Der Vorteil des Begriffes liegt darin, dass die unterschiedlichsten Phänomene mit ihm in einen scheinbar sinnstiftenden Zusammenhang gebracht werden können. Die Schaffung einer „neuen Weltordung“ (New World Order, NWO) gehört seit Jahrhunderten zum Standardrepertoire von Verschwörungserzählungen. Hier scheint nun alles dazu zu passen: Verabreden sich doch hier tatsächlich globale Eliten, um genau das zu erreichen: eine grundlegende Änderung der globalen Wirtschaftsordnung. In der Perspektive der Verschwörungserzähler gehe es dabei nicht um Menschenrechte, Gerechtigkeit und Umweltschutz. Der Umbau der Wirtschaft laufe vielmehr auf einen kommunistischen totalitären Überwachungsstaat hinaus, lauten die entsprechenden Angstprognosen. Ganz in der Tradition von QAnon werden dabei die gruseligsten Verbrechen und entsprechend finstere Absichten unterstellt. So sei die ganze Corona-Pandemie von diesen „Eliten“ gezielt und absichtlich herbeigeführt worden, um die globalen Erschütterungen auszulösen, die einen solchen Neuanfang ermöglichen.

Abwehr von Veränderung

Der Great Reset wird damit zur Meta-Erzählung, in die jegliche Abwehr notwendiger Veränderung der Gegenwart integriert werden kann. Alle politischen Projekte, die etwas an dem Status Quo der Gegenwart ändern wollen, können  als Teil des Great-Reset-Plans etikettiert werden. Damit werden sie automatisch als übles Projekt zum Schaden der Menschheit klassifiziert. Das betrifft Infektionsschutzmaßnahmen in der Pandemie genauso wie nötige Veränderungen zum Klimaschutz. Auf Bannern rechtsextremer Gruppen schließt der „Great Reset“ direkt an den angeblichen „Großen Austausch“ an, der die Flüchtlingsströme als gezielten Plan zum Bevölkerungsaustausch betrachtet, um das „Deutschtum“ genetisch zu schwächen. Alle Bemühungen um mehr Gerechtigkeit zwischen Männern und Frauen können ebenso mit dem Hashtag #GreatReset versehen werden, wie Bemühungen um mehr soziale Gerechtigkeit, die ohnehin schnell mit dem Kommunismusverdacht gebrandmarkt werden.

Lügen und Übertreibungen

Wie jede Verschwörungserzählung mischt auch die Erzählung vom „Great Reset“ Lügen mit Wahrheit, Wirkliches mit abenteuerlichen Übertreibungen und Verdrehungen.

Wahr daran ist, dass uns als Gesellschaft tatsächlich erhebliche Veränderungen bevorstehen. Die bringen allein schon Digitalisierung, Globalisierung und der Klimawandel mit sich – ob wir das wollen oder nicht. Ein verweigerndes „ich will, dass alles so bleibt wie es früher mal war“ ist keine Lösung. Die Frage ist, wie wir diese nötigen Veränderungen gestalten.

Unwahr ist, dass „globale Eliten“ sich verschworen hätten, um Donald Trump zu stürzen (das waren die Wählerinnen und Wähler in den USA auf demokratischem Weg). Unwahr ist, dass Medien und Politik gleichgeschaltet wären (die Medienlandschaft ist so bunt wie nie zuvor). Unwahr ist, dass die Pläne aus der Menschheit eine anonyme Masse von Sklaven machen, dass Privateigentum abgeschafft und eine kommunistische Diktatur errichtet werden solle. Absurde Behauptungen sind, dass den Menschen mit eingeimpften Mikrochips die Gedanken kontrolliert und alle in Internierungslager gesperrt würden, die das ablehnen und die Demokraten eigentlich Satanisten seien, die heimlich massenhaft Kinder quälen und ermorden, um aus deren Blut ein Verjüngungsmittel zu gewinnen.

Solche irren Angstmärchen folgen einem Zweck: Zukunftsorientierte demokratische Entscheidungsprozesse diskreditieren und ein Klima des Mißtrauens säen. Das nützt am Ende denen, die fürchten, ihr Gewinn oder ihr Einfluss könnte Schaden nehmen, wenn die Welt tatsächlich sozialer und ökologischer werden sollte.

 

Harald Lamprecht

Dr. Harald Lamprecht

ist Beauftragter für Weltanschauungs- und Sektenfragen der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens und Geschäftsführer des Evangelischen Bundes Sachsen.

Kommentare

Uwe Anger (nicht überprüft)

So., 05.09.2021 - 10:00

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Die entscheidende Aussage

Gelesen hat es von denen vermutlich kaum jemand

Zusammenhänge lassen sich jedoch nur im vollständigen erkennen. Alles andere führt zum Chaos,doch...

Der Zug des LEBENS fährt weiter. 

Uwe Anger 

Anger Invest 

 

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Dieser Beitrag ist erschienen in Confessio 1/2021 ab Seite 08