Querdenkverweigerer
Es ist ein seltsames Phänomen: Vergleicht man die Auswirkungen der Corona-Pandemie im europäischen Raum und sogar weltweit, so ist kaum ein Land zu finden, dass ähnlich gut wie Deutschland bislang durch die erste Welle dieser Krise gekommen ist. In den Nachbarländern waren die Regelungen beim sogenannten „Lockdown“ im Frühjahr z.T. deutlich härter. In Frankreich oder Tschechien durften die Bürger zeitweise ihre Wohnungen nicht verlassen – das gab es in Deutschland nie. Nirgends waren die Todesraten so niedrig wie hier. Seinen Sonderweg hat Schweden mit hohen Todesraten bezahlt. Eigentlich sollten sich die Bürger in Deutschland über die Situation in ihrem Land glücklich schätzen. Dennoch formieren sich Proteste, die zehntausende Menschen mobilisieren um „gegen die Corona-Politik der Bundesregierung“ zu protestieren – was auch immer jeweils damit gemeint sein mag.
Wer sind diese Protestierer? Es ist kaum möglich, sie auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Unter ihnen lassen sich allerdings verschiedene Grundtypen charakterisieren.
Typ 1: Die Verärgerten: „Alles unnötig übertrieben!“
Der Typ des Verärgerten beschreibt zuvor unauffällige „ganz normale Bürger“, die sich aber durch die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Infektion in ihren gewohnten Lebensvollzügen aus der Bahn geworfen oder über das von ihnen akzeptierte Maß hinaus eingeschränkt fühlen. Die Verärgerten sind der Meinung, die ganzen Maßnahmen seien in der Form unnötig oder zumindest übertrieben. Möglicherweise haben sie sogar an bestimmten Stellen recht. Deutschland ist ein Land, in dem vieles sehr auf Sicherheit orientiert ist. Wo vielleicht mal jemand herunterfallen könnte, muss ein stabiles Geländer hin, ansonsten wird der Weg gesperrt. Das führt dazu, dass die Verantwortlichen in dieser Hinsicht lieber zu viel als zu wenig machen – und mehr Sicherheit geht immer nur mit weniger Freiheit. Weil in dieser Pandemie niemand wirklich weiß, wie die Entwicklung sein wird, und wie gefährlich es genau sein wird, ist es schwer zu sagen, was das „richtige Maß“ in jedem Einzelfall darstellt. Darüber kann und muss auch gestritten werden.
Das Problem mit den „Verärgerten“ besteht darin, dass sie in ihrer Grundintention, die Maßnahmen abzulehnen, dazu neigen, die Gefahren der Pandemie zu negieren und Covid19 für nicht gefährlicher als einen Schnupfen erklären – unter Ignoranz der tatsächlichen Situation. Wenn nun aber die Krankheit als ungefährlich definiert wurde, entsteht eine Erklärungslücke für die Begründung der vorhandenen Maßnahmen. Das macht die „Verärgerten“ anfällig für Verschwörungserzählungen. Die Lücke schließt sich nämlich einfach, indem man den Regierenden unterstellt, „in Wahrheit“ einen ganz anderen, heimlichen Plan zu verfolgen. Die Einschränkung von Freiheitsrechten ist dann nicht mehr der Kollateralschaden des Infektionsschutzes, sondern wird zur eigentlichen Absicht erklärt, der man sich natürlich widersetzen müsse.
Typ 2: Die Esoteriker: „Impfzwang verhindern!“
Die Motivationslage von Typ 1 trifft nun auch auf Menschen, die sich schon länger in einer kritischen Distanz zur wissenschaftlich begründeten Medizin und dem damit verbundenen gesellschaftlichen Mainstream befinden. Das betrifft z.B. Anthroposophen, die unter Verweis auf Rudolf Steiners okkulte Ängste ihre Kinder auf der Waldorfschule nicht gegen Masern impfen lassen wollen. Das betrifft Esoteriker, die es gewohnt sind, inneren gefühlten Wirklichkeiten stets mehr Realität zuzubilligen, als nüchternen wissenschaftlichen Fakten. Hier treffen die Verschwörungserzählungen von bösen Pharmakartellen, die angeblich einen globalen Impfzwang auslösen wollen, auf angelehnte, wenn nicht schon ganz geöffnete Türen und aktivieren entsprechende Widerstandsenergien.
Typ 3: Die Fundamentalisten: „Gott erlöst aus der Krise“
Es gibt davon auch eine christlich geprägte Form, wobei hier die innere Distanz zur Mehrheitsgesellschaft und zur Wissenschaft mit dem Vorrang der göttlichen Offenbarung begründet wird. Inhaltlich geht es weniger um das Impfen, sondern in erster Linie um die Forderung, an gewohnten Gottesdienstformen mit Versammlung zu gemeinsamen Liedern und Gebeten festhalten zu können. Rücksicht auf andere ist hier kein Grund, eigene Versammlungen zu reduzieren, denn man wähnt sich durch besondere Gottesnähe geschützt. Auch hier kombiniert sich dies leider mit Offenheit gegenüber Verschwörungserzählungen. Ein Beispiel dieser Richtung ist der Berliner pfingstkirchlich geprägte Leiter seines eigenen Mini-Missionswerkes1 Christian Stockmann, der die Internetseite „Christen im Widerstand“2 betreibt und auch als Redner und Musiker bei verschiedenen Demos aufgetreten ist.3
Typ 4: Die Antikapitalisten: „Demonstrations- und Kulturfreiheit retten“
Die Kunst- und Kulturszene ist von der Absage sämtlicher Gemeinschaftsveranstaltungen am härtesten getroffen. Aus einer politisch eher linken Richtung ist man geneigt, in dem Lockdown eine Maßnahme zur Verschleierung des ohnehin anstehenden Zusammenbruchs des globalen Finanzmarktkapitalismus zu erkennen. So hofft die Bewegung vom „Demokratischen Widerstand“, dass diese Krise „auch eine Chance zur Erneuerung“ sein könne und „unsere künftige Wirtschaftsgesetzgebung (basis-)demokratisch, transparent & ergebnisoffen verhandelt“ werden könne. Dazu braucht es natürlich Foren, Diskussion, Begegnung, Meinungsaustausch und Demonstrationen – was alles durch den Infektionsschutz behindert wird, und deshalb demonstrieren sie dagegen.
Typ 5: Rechte Trittbrettfahrer: „Hauptsache gegen den Staat“
Typ 5 hat eine ganz andere Motivationslage. Ob die Viren nun harmlos oder gefährlich sind ist ihm im Grunde egal – Hauptsache, es lässt sich damit Stimmung gegen den Staat und die etablierten Systeme machen. Alles, was die bestehende Ordnung destabilisiert, hilft denen, die eine neue Ordnung nach eigenen Regeln errichten wollen.
So hat z.B. die AfD in den ersten Wochen der Pandemie vor allem Panik verbreitet, die Gefährlichkeit betont und der Bundesregierung Verharmlosung vorgeworfen. Als diese dann auf steigende Infektionszahlen mit Infektionsschutzmaßnahmen reagierte, wurde plötzlich ein Schwenk hingelegt und fortan die Harmlosigkeit des Coronavirus betont und das Regierungshandeln als übertrieben und zerstörerisch angeklagt. Rechtspopulisten und Neonazis haben bemerkt, dass hier Emotionen bei für sie neuen Zielgruppen möglicherweise in politischen Gewinn zu übersetzen sind. Sehr schnell haben sie das Mobilisierungspotenzial hinter den Anti-Corona-Protesten entdeckt und versuchen seitdem, diese Energie auf die eigenen Mühlen umzuleiten. Dazu wurden bekannte Rechtsextremisten als Anmelder zahlreicher „Hygiene-Demos“ aktiv und machen auf eigenen Webseiten und Social-Media-Kanälen kräftig Stimmung für die entsprechenden Demonstrationen. Dort sind sie dann auch mit ihren Fahnen und Symbolen unverkennbar und zahlreich mit dabei.
Unsinn glauben wollen
Zum Symbol für das alle Typen durchziehende Unbehagen ist die Atemmaske geworden. Obwohl sie nachweislich die Infektionsausbreitung senken kann, ist natürlich niemand froh, sie tragen zu müssen. Sie behindert nicht nur das Atmen, sondern auch die Kommunikation. Sie ist lästig, ebenso wie die vielen Planungsunsicherheiten in Bezug auf Job, Urlaub, Reisen und Kinderbetreuung. Viele wünschen sich, dass dieser ganze Spuk doch endlich vorbei wäre. Freilich sagt der gesunde Menschenverstand, dass dies ein Wunschtraum ist und es so schnell nicht gehen wird. Nun treffen einige in dieser Gemütsverfassung auf Menschen oder lesen Nachrichten in den eigenen sozialen Kanälen, die behaupten, das müsste alles gar nicht sein, weil die Pandemie übertrieben werde. Das ist eine Nachricht, die man – ganz menschlich – nur zu gerne glauben will. Gerade weil in Deutschland das Gesundheitssystem so gut aufgestellt ist und daher (bisher) die Todesraten so niedrig sind, haben vergleichsweise wenige Menschen in ihrem persönlichen Nahbereich damit unmittelbar zu tun. Alle Gefahren der Pandemie sind folglich „nur“ medial vermittelt. Wenn nun die Dichte „alternativer“ Nachrichtenquellen, die ein anderes Bild der Wirklichkeit zeichnen, so hoch ist, dass es ihr gelingt, den unbequemen Einwand der kritischen Vernunft zum Schweigen zu bringen, kann der Wunsch zur Glaubensüberzeugung werden. Ein ehemaliger Anhänger von Verschwörungsmythen berichtete, dass er diese geglaubt habe, weil sie sie glauben wollte.4
(Nicht) Alles Nazis?
Sicherlich lassen sich noch weitere Typen finden und klassifizieren. Es gibt natürlich auch diverse Mischformen – linke Esoteriker oder rechte Fundamentalisten und alle sind irgendwie verärgert und empört. Festzuhalten bleibt aber, dass die Teilnehmerschaft und ihre Motivation eine starke Mischung aufweist. Einziges Verbindendes ist der Mottobildende (leider utopische) Wunschtraum „Ende der Pandemie“. Zahlenmäßig scheint der Anteil der Esoteriker und Rechtsextremen größer als der Kommunisten und der Christen. Die deutlich sichtbare Präsenz und das Engagement von Reichsbürgen, QAnon-Anhängern, Rechtspopulisten von Pegida und AfD bis hin zu harten Neonazis wie z.B. der Partei „Der III. Weg“ erzeugt den Reflex, das Demonstrationsgeschehen insgesamt dieser Richtung zuzuordnen. Einen größeren Gefallen könnte man diesen Kräften kaum tun. Denn damit würde unterstellt, dass die Typen 1-4 doch irgendwie rechte Sympathisanten seien - nur weil sie sich nicht ausreichend abgrenzen. Nun stimmt das mit der mangelhaften Abgrenzung leider. Dennoch gilt es, die Vielfalt der Motivationslagen im Blick zu behalten. Denn auch der gegenteilige Reflex, verteidigend die Banalität festzustellen, es seien doch „nicht alles Nazis“ auf den Demos, bewirkt unterm Strich nur eine Verharmlosung der rechtsextremen Trittbrettfahrer. An der sachlichen Unterscheidung dieser Gruppen und Richtungen führt daher kein Weg vorbei, wenn die Auseinandersetzung seriös sein soll.
Demokratiefeinde
Unübersehbar ist aber, dass die großen Demonstrationen wie in Berlin am 29.08. oder in Leipzig am 7.11.2020 eine Ausrichtung bekommen haben, welche die deutsche parlamentarische Demokratie in grundsätzlicher Weise ablehnt und einen Systemwechsel propagiert. Wie es besser zu machen wäre, sind sich die Teilnehmenden zwar keineswegs einig. Aber die Ablehnung von Infektionsschutz in verschwörungsideologischer Aufblähung führt zur Maßlosigkeit in der Kritik.
Davon zu unterscheiden sind Aufrufe, die mit Augenmaß in berechtigter Weise konkrete Einseitigkeiten und Härten geltender Maßnahmen kritisieren, ohne in Verschwörungserzählungen zu verfallen.5
Gute Arbeit in der Krise
Bei all der medialen Aufmerksamkeit auf die Anti-Corona-Demonstranten gilt es dennoch im Blick zu behalten, dass die große Mehrheit der Bevölkerung Verständnis für die Maßnahmen zum Infektionsschutz zeigt und die bisherige Politik eines maßvollen Handelns, das der Gesundheit der Bevölkerung die Priorität einräumt, positiv anerkannt wird. Der ARD-Deutschland-Trend vom 03.09.2020 zeigt Rekordwerte in der Zustimmung zur Arbeit der Bundesregierung.6 Das Magazin Focus titelte dazu: „Bürger mit Merkel-Regierung so zufrieden wie noch nie“.7 Das passt freilich so wenig in das Denkschema der Corona-Kritiker, dass viele diese Informationen auch der Propaganda der angeblichen Verschwörer zurechnen.
Harald Lamprecht
1 www.mandelzweig.org
2 www.christen-im-widerstand.de
3 Martin Fritz hat sich im EZW-Newsletter mit dessen Argumentation kritisch auseinandergesetzt: http://ezw.kjm6.de/nlgen/tmp/1600755725.html
4 Alexander Eydlin, „Ich sah das Schlachtfeld“, ZEIT, 5.09.2020
5 Zum Beispiel die Veranstaltungswirtschaft auf alarmstuferot.org.
6 https://www.tagesschau.de/inland/deutschlandtrend-2317~magnifier_pos-2.html
7 https://www.focus.de/politik/deutschland/wie-zufrieden-sind-sie-ard-meldet-rekordwerte-buerger-mit-merkel-regierung-so-zufrieden-wie-noch-nie_id_12292803.html
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