Die Exklusivitätsverschiebung

Neuapostolische Kirche präsentiert neues Kirchenverständnis

Mit Spannung wird vielerorts der lange angekündigte neue Katechismus der Neuapostolischen Kirche (NAK) erwartet. Seit dem Beginn des ökumenischen Öffnungsprozesses der Neuapostolischen Kirche stehen ökumenische Gespräche vor dem Problem, dass nicht ganz klar ist, was in der NAK offiziell gilt. Die alten Lehraussagen in „Fragen und Antworten über den neuapostolischen Glauben“ seien nicht mehr gültig. Ein neuer Katechismus ist in Arbeit, aber sein Erscheinungsdatum wurde immer wieder nach hinten verschoben. Nun sei er kurz vor der Fertigstellung, allerdings dauern die komplizierten Übersetzungen in die verschiedenen Hauptsprachen der NAK Englisch, Französisch, Portugiesisch, Spanisch und Russisch noch an. Darum soll – so die gegenwärtigen Aussagen – die komplette Druckversion des 600-Seiten-Werkes erst Ende 2012 weltweit vorliegen.

Ungeachtet dieser Tatsache hat die NAK begonnen, erste Einführungsveranstaltungen in den neuen Katechismus zu organisieren. In Lehrte bei Hannover kamen im Januar Funktionsträger aus allen Gebietskirchen zusammen, um über wesentliche Inhalte des Katechismus informiert zu werden. Weiter heißt es, dass insbesondere Lehrthemen, in denen sich Änderungen ergeben haben, ab 2011 in Artikeln der Kirchenzeitschrift „Unsere Familie“ sowie in den „Leitgedanken“ für die Amtsträger der NAK bereits veröffentlicht werden sollen.

Solches ist nun in Bezug auf das Kirchenverständnis geschehen. In einer im Februar 2011 erschienenen Sonderausgabe der „Leitgedanken zum Gottesdienst“, wurde in der Rubrik „Hinweise zur Lehre“ eine ausführliche Darstellung des Kirchenverständnisses der NAK vorgelegt. Dies verdient eine genauere Analyse. Die „Leitgedanken“ richten sich zunächst nur an Amtsträger der NAK. Der Text ist in diesem Sinn also noch nicht öffentlich verkündet, sondern für Diskussion und Schulungen innerhalb der NAK freigegeben.

Christus stiftet die Kirche

Der erste Abschnitt „Die Grundlage und Aufgabe der Kirche“ bietet eine heilsgeschichtliche Einbettung des Kirchenverständnisses. Als Grund der Kirche wird dabei klar die Hinwendung Gottes zu den Menschen in Jesus Christus benannt: „Alles, was Kirche ist und bedeutet, hat seinen Grund in Person, Wort und Tat Jesu Christi.“ In der Beschreibung des Wirkens Jesu wird die Berufung der zwölf Apostel sowie die Einsetzung des „Petrusdienstes“ unter Verweis auf Mt. 16,18 hervorgehoben. Dieser Begriff ist aus der römisch-katholischen Theologie in den neuapostolischen Sprachgebrauch neu übernommen worden und soll eine hierarchische Kirchenstruktur theologisch legitimieren. Nun kann man offen darüber diskutieren, in wieweit ein zentrales Leitungsamt für die Kirche sinnvoll sein kann. Einer theologischen Überhöhung muss aus evangelischer Sicht aber entgegengehalten werden, dass Jesus in Mt. 16,18 eindeutig Petrus als Person anspricht. Mit keiner Silbe wird ein Amt angedeutet, das kirchlichen Legenden zufolge von ihm erst Jahrzehnte später in Rom übernommen worden sein soll. Noch weniger wird aus diesem persönlichen Bischofsamt eine Institution begründet.

Wesensmerkmale

Im zweiten Abschnitt werden die vier Wesensmerkmale der Kirche aus dem Glaubensbekenntnis von Nizäa-Konstantinopel dargestellt, die von der einen, heiligen, allgemeinen und apostolischen Kirche sprechen. Die Interpretation dieser Wesensmerkmale entspricht z.T. wörtlich dem Kommentar zum neuen Glaubensbekenntnis der NAK vom Juni 2010. In Bezug auf das Wesensmerkmal der Apostolizität wird dargelegt, dass dies „in zweierlei Hinsicht“ gelte: einmal als Verkündigung der apostolischen Lehre, zum anderen im apostolischen Amt als dem Apostelamt mit seinen Vollmachten, „das sich in gegenwärtig wirkenden Aposteln geschichtlich verwirklicht“. Bis hierhin findet sich eigentlich nichts grundlegend Neues. Indem das (ab 1832 neu errichtete) Apostelamt zum Wesensmerkmal der Kirche erhoben wird, wäre die Kirche Jesu Christi – wie bisher verkündet – nur in der Neuapostolischen Kirche zu finden. Aber dabei bleibt es nicht.

Verborgene Gesamtkirche

Spannend wird es bei Punkt drei. Die Kirche wird dort in Analogie zur Person Jesu Christi gesetzt, in dem göttliches und menschliches Wesen miteinander verbunden sind, von diesen Naturen aber nur das menschliche Wesen offensichtlich ist.

Dies wird auf das (auch in der evangelischen Theologie anzutreffende) Begriffspaar von der sichtbaren und der unsichtbaren Kirche bezogen. Die eben genannten Wesensmerkmale der Kirche betreffen demnach lediglich die verborgene Seite der Kirche, denn nur in ihr sind sie „in vollkommener Weise“ vorhanden. Obwohl unsichtbar, wird diese Seite der Kirche dennoch erfahrbar in der Predigt des Evangeliums und den Sakramentsspendungen. Damit sind die beiden entscheidenden Merkmale der Kirche aus der lutherischen Theologie aufgenommen, wie sie im Augsburger Bekenntnis, Artikel 7, formuliert wurden. Von Bedeutung sind die nun folgenden Sätze: „Zur verborgenen Kirche Jesu Christi zählen all jene Menschen, die im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes getauft sind, an Jesus Christus glauben und ihn bekennen. Ebenso gehören ihr die Gläubigen aus dem Alten Bund an (vgl. Hebr 11; Lk 13,28.29). Insofern weiß nur Gott, welche Menschen zur verborgenen Kirche zählen.“

So deutlich konnte man eine ekklesiologische Öffnung für andere Christen bei der NAK bislang noch nirgends formuliert finden. Dies bestätigt auch der nachfolgende Satz, in dem betont wird, dass verborgene und offenbare Kirche ebenso wenig voneinander zu trennen seien wie göttliche und menschliche Natur Jesu Christi. Dies bedeutet, dass auch Nicht–Neuapostolische Christen genauso wahrhaft zur Kirche Christi gehören, ebenso wie Jesus wahrer Gott ist.

In diesen Sätzen liegt ein bedeutendes Potenzial für eine weitergehende ökumenische Annäherung zwischen der NAK und anderen Kirchen.

Sichtbare Kirche: Unvollständig

Dass die geschichtliche Verwirklichung der Kirche dem Ideal mitunter beträchtlich hinterher hinkt, ist eine allgemeine Einsicht. Die NAK nimmt sich nun mit hinein in die Unvollständigkeit der Verwirklichung der Elemente der Kirche, indem sie erklärt: „Die Kirche Christi wird nicht nur in einer der vorhandenen Kirchen, sondern in den unterschiedlichen Kirchen bzw. kirchlichen Institutionen, die im Laufe der Jahrhunderte entstanden sind, wenn auch in unterschiedlichem Maß, sichtbar oder offenbar. In ihrer geschichtlichen Verwirklichung – also in ihrer Sichtbarkeit – wird die Kirche Jeus Christi insgesamt dem Gebot der Einheit, Heiligkeit, Allgemeinheit und Apostolizität nicht gerecht.“ Dem ist (leider) unbedingt zuzustimmen.

Allerdings folgt darauf gleich eine beträchtliche Engführung, indem der Mangel ausschließlich im Bereich der Apostolizität, und nicht im Bereich der Einheit und Allgemeinheit gesehen wird, wo er doch viel offener zu Tage tritt.

NAK als „deutlichste Kirche“

Der Anspruch der NAK lautet nach dem hier formulierten Kirchenverständnis, dass in ihr „am deutlichsten“ die (unsichtbare) Kirche wahrnehmbar sei, weil in ihr „das Apostelamt, die Spendung der drei Sakramente an Lebende und Tote sowie die rechte Wortverkündigung vorhanden“ seien. Das ist der altbekannte Anspruch der NAK – aber jetzt mit einer wichtigen Modifikation: Er wird komperativisch vertreten und ist damit nicht mehr streng exklusiv. In ähnlicher Weise formulieren andere Kirchen ebenfalls ihr Selbstverständnis – sehr deutlich z.B. die Römisch-Katholische Kirche, die im Zweiten Vatikanischen Konzil (Kirchenkonstitution Lumen Gentium 16) das Modell konzentrischer Kreise entworfen hat. Auch im Luthertum ist man der Meinung, dass die eigene Form der Glaubensausübung den unmittelbarsten Zugang zum Evangelium gewährleistet – sonst würde man es ja anders handhaben.

Problematischer ist der Nachsatz, der die klassische NAK-Terminologie aufnimmt, aber damit wieder das Bild einer geschlossenen Gesellschaft mit verschlossenen Türen einträgt: „Dort ist das Werk Gottes aufgerichtet, in dem die Braut Christi für die Hochzeit im Himmel bereitet wird.“ Die NAK liebt offenbar dieses Bild der geschlossenen Hochzeitsgesellschaft aus Mt. 25, 1-13 und wähnt sich innerhalb der Festgemeinschaft. Das biblische Gleichnis spricht aber gerade nicht von der Zugehörigkeit zu einer Organisation („Brautjungfern“) als Zugangskriterium, sondern von der persönlichen Bereitschaft für den Herrn. Bei Gottes Fest sind letztlich nicht diejenigen dabei, die eine Einladungskarte haben, sondern die sich von ihm einladen lassen – auch von den Straßen und Gassen (Lk 14,1-24).

Trübe „apostellose“ Zeit

Bis zu dieser Stelle ist die Neuformulierung des Kirchenverständnisses aus evangelischer Sicht durchaus zu begrüßen. Leider bringt der nächste Abschnitt „Die Kirche Jesu Christi und das Apostelamt“ einen Rückfall in längst überwunden geglaubte Abgrenzungen. So wird ausführlich erklärt, dass in der sogenannten „apostellosen Zeit“ vor der Berufung der neuen Apostel im 19. Jahrhundert es keinerlei sakramentale Vermittlung der Gabe des Heiligen Geistes gegeben habe, weil die Spendung des Heiligen Geistes allein dem Apostelamt vorbehalten sei. Das ist nicht nur theologischer Unsinn (vgl. Apg. 10,44ff), sondern fällt auch hinter das zurück, was die NAK selbst schon über das Wirken des Heiligen Geistes erklärt hatte. Vom Wirken des Heiligen Geistes in anderen Kirchen ist hier überhaupt nicht mehr die Rede.

Ebenso von ausgrenzender Selbstüberheblichkeit zeugt die Aussage, in der apostellosen Zeit – und damit auch heute außerhalb des Wirkens der neuapostolischen Apostel – käme im Abendmahl die wahrhafte Gegenwart von Leib und Blut Jesu nicht mehr zustande, so dass es nur als Gedächtnis-, Gemeinschafts- und Dankesmahl gefeiert würde. Wozu diese Ausgrenzung? Will die NAK allen Ernstes behaupten, in der gesamten Geschichte der christlichen Kirche seit dem ersten Jahrhundert hätte es keine Gegenwart Christi im Abendmahl gegeben? Will sie sagen, alle Orthodoxen und alle Römisch-Katholischen Kirchen würden in der Eucharistie ein bloßes Gedächtnismahl feiern? Auch in der Lutherischen Tradition gab es nie einen Zweifel an der realen Präsenz Jesu Christi im Abendmahl, wie es die Einsetzungsworte – ganz ohne Bezug auf das Apostelamt – beschreiben. Selbst die Reformierten Kirchen haben sich in der Leuenberger Konkordie dieser Sicht angeschlossen.

Warum konnte es die NAK nicht wie im Blick auf die Wiederkunft Christi offen ausdrücken? Dazu wird in diesem Text lediglich ausgeführt, dass ein Teil der Kirche entrückt werde, ein anderer Teil hingegen sich in den antichristlichen Bedrängnissen bewähren müsse. Auf eine engführende Festlegung, wer welcher Teil sei, wurde hier glücklicherweise verzichtet. Hätte es nicht genügt, den Glauben auszudrücken, dass in der NAK die Gegenwart Christi im Abendmahl gegeben ist und die Apostel wirksam den Heiligen Geist vermitteln können? Damit können auch andere Kirchen gut leben. Nicht aber damit, dass ihnen zentrale Elemente ihres Glaubens direkt abgesprochen und exklusiv für eine vergleichsweise neu entstandene kleine Gemeinschaft reklamiert werden.

Fazit

Der neue Text über das Kirchenverständnis zeigt eine Verschiebung in den Schwerpunkten des ökumenischen Gespräches mit der Neuapostolischen Kirche. Standen bislang das Kirchenverständnis und die Eschatologie im Zentrum der Auseinandersetzung, weil dort der neuapostolische Exklusivitätsanspruch am stärksten zum Ausdruck kam, so zeichnet sich hier eine erfreuliche Entspannung ab. Die Aussagen über die generelle Verborgenheit der wahren Kirche Christi und der nur relativen Besserstellung der NAK im eigenen Selbstverständnis öffnen Türen für weitergehendes ökumenisches Gespräch. Leider scheint die Angst um einen Bedeutungsverlust des Apostelamtes aber zu groß, um auf diesem Weg wirklich einen Schritt vorwärts zu gehen. Die deutlich formulierte Ausgrenzung aller anderen Kirchen im Abendmahl und in Bezug auf die Vermittlung des Heiligen Geistes ist diesen ein Schlag ins Gesicht. Damit wird die Rezeption der Dialoge zwischen lutherischer und katholischer Kirche über das Abendmahl zu einer dringenden Aufgabe im Gespräch mit der NAK für die Zukunft, soll der beschwerliche Weg der Verständigung nicht weiter ins Stocken geraten. Dabei ist die Abendmahlskontroverse lediglich eine Stellvertreterdiskussion. Das eigentliche Problem dahinter ist die überhöhte Stellung des Apostelamtes, das offensichtlich weiterhin als Alleinstellungsmerkmal der NAK eben auch in seiner ausgrenzenden Funktion gerettet werden soll.

Schnäppchenökumene?

Diese Verschiebung der Konfliktlinie lässt sich aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten. Manche sehen darin möglicherweise ein gewisses Kalkül in der Art: „Wie können wir auf die billigste Art das „ökumenische Gütesiegel“ einer (Gast-)Mitgliedschaft in der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen erwerben? Exklusive Eschatologie und ein entsprechendes Kirchenverständnis wurden bislang als Haupthindernis angesehen. Wenn nun der Fokus auf das sakramentale Abendmahlsverständnis verschoben wird, liegt er in einem Gebiet, in dem die ACK-Kirchen selbst eine große innere Bandbreite an Meinungen aufweisen. Ein Hindernis für die ACK-Mitgliedschaft könne eine exklusive Position an dieser Stelle doch dann nicht mehr sein…“ So könnte man über entsprechende Motive spekulieren. Aber so funktioniert Ökumene nicht. Sie ist kein Feilschen um Kompromisse und Zugeständnisse wie auf einem orientalischen Basar. Ökumene lebt von dem glaubwürdigen gemeinsamen Ringen um die Wahrheit. Möglicherweise ist diese spekulative Unterstellung von taktischen Motiven auch völlig falsch. Man könnte es auch so betrachten, dass wenn eine Tür geöffnet wird, die dahinter liegende Tür plötzlich deutlicher (und störender, weil soeben noch zweimal zugeschlossen) wahrgenommen wird als vorher, als man sie noch nicht erreicht hatte. Diese Sichtweise lässt mehr davon deutlich werden, dass Ökumene immer ein Prozess ist, bei dem man gemeinsam miteinander auf dem Weg ist. Dazu gehört, dass man sich nicht gegenseitig die Beine stellt, sondern sein Proviant miteinander teilt.

Dr. Harald Lamprecht

ist Beauftragter für Weltanschauungs- und Sektenfragen der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens und Geschäftsführer des Evangelischen Bundes Sachsen.

Artikel-URL: https://www.confessio.de/artikel/263

Dieser Beitrag ist erschienen in Confessio 1/2011 ab Seite 04