Drachinzeit und Phönixzeit

Übergangsrituale für Jugendliche im Eigendesign

„Sonntagmittag auf dem Paradiesplatz in Belzig. Auf dem Gelände des Kräutersammlers und Agrarwirts Thomas Beutler treffen Menschen allen Alters ein und bringen Picknickkörbe, Kühltaschen und Kuchenplatten mit. Ein großer Brunch wird vorbereitet. Es sind die Familien und engen Freunde von elf Berliner Jungen, die hier die Phönixtage verbrachten, um ihre Kindheit abzuschließen. Mittendrin die Eltern, in freudig gespannter Stimmung. „Es kribbelt ganz schön“, ruft eine Mutter. Wird die Verwandlung vom Kind zum jungen Mann ihrem Sohn anzusehen sein? Wie hat er die vierundzwanzig Stunden überstanden, die er alleine und ohne zu essen im Wald verbrachte?“ So beginnt ein Artikel über das Angebot „Phönixzeit“ für Jungen, das in Potsdam statt Jugendweihe oder Konfirmation angeboten wird. Geschrieben hat den Artikel Stefan Strehler, Autor und Pädagoge, der die Arbeit des Phönixzeit-Teams koordiniert.3

Jugendweihe und Konfirmation

Die Praxis der Jugendweihe wurde und wird oft damit begründet, dass es zu allen Zeiten und in jeder Kultur in diesem Alter Initiationsrituale gegeben habe. Diese Behauptung lässt sich empirisch nicht belegen. Vielmehr leitet sich die Jugendweihe ganz klar von der Konfirmationsfeier her. Sie ist von ihrem Ursprung her eine Konfirmations-Ersatzfeier für atheistische junge Menschen. Die Konfirmation ist auch kein Initiationsritual, sondern dient einzig dem Zweck, dass junge Erwachsene nachträglich ihre Zustimmung zur Taufe geben, wenn sie das religionsmündige Alter erreicht haben. Da sich die Jugendlichen dann im Alter der Pubertät befinden und zudem die Konfirmation in früheren Zeiten mit dem Schulabschluss und dem Eintritt in das Arbeitsleben zusammenfiel, kann die Konfirmation an ein Übergangsritual erinnern.

Im Osten Deutschlands gehen die Jugendweihezahlen in den letzten Jahren zurück. Es gibt immer mehr junge Menschen und Familien, die ganz auf eine Feier verzichten. Man verbindet weder mit der Jugendweihe noch mit der Konfirmation noch etwas. Auch ein Ritual wie die Jugendweihe verliert an Sinn, wenn keine Gemeinschaft als Ganzes dahintersteht, die das Ritual trägt und mit Inhalt und Leben füllt.

Sehnsucht nach Verzauberung

Die hohe Religionslosigkeit und die zunehmende Entkirchlichung in Europa hinterlässt ein Vakuum. Menschen hören nicht auf, nach einem höheren Sinn zu fragen und über sich hinauszudenken. Es gibt eine Sehnsucht nach Verzauberung gerade auch zu einer Zeit wie der unsrigen, wo alles rational erklärt wird. Und so breitet sich eine neue Religiosität aus oder zumindest eine Praxis und Suche, die Spuren von Religion enthält. Diese unbestimmte Suche nach etwas, das man mit einer gemeinsam geteilten, selbstverständlichen Religion verloren hat, speist sich aus ganz unterschiedlichen Quellen. Weltweit lässt man sich von Kulturen, Traditionen und Religionen inspirieren. Je exotischer und oft je naturnaher, desto attraktiver sind kulturelle und religiöse Elemente für westliche Sinnsucher. Hinzu kommt viel Kreativität, mit der im weitesten Sinne „spirituelle Praxis“ und Rituale individuell gefüllt und ausgestaltet werden. Von außen und vor allem aus dem Blickwinkel einer traditionellen Religion wirkt dies merkwürdig „selbstgebastelt“. Aber es wird mit großem Ernst von den Praktizierenden vertreten.

Dem Beobachter stellt sich die Frage, ob und wie diese selbstgemachten, an Religion erinnernden Versatzstücke den erhofften Halt und Sinn geben können, ohne gewachsene Tradition und ohne eine breite Gemeinschaft, die diese Formen und Inhalte teilt und trägt. Manchmal sind es einzelne junge Familien, die Rituale als Ersatz für zum Beispiel die Taufe oder eine Trauung erfinden. Daneben gibt es Anbieter alternativer religiöser Formen und Rituale, die damit ihren Lebensunterhalt verdienen. In der Regel sind sie Teile von Netzwerken Gleichgesinnter und bilden sich untereinander über Seminare und „Ausbildungen“ fort, teilen so ihre Vorstellungen und entwickeln sie dann individuell zu eigenen Angeboten weiter.

Visionssuche in Potsdam

Im Raum Potsdam sind in den letzten 15 Jahren zwei sozialpädagogische Angebote für Jungen und Mädchen entstanden, die den Übergang von der Kindheit zum Frausein bzw. Mannsein bewusst für ein halbes Jahr vom Frühling bis zum Herbst begleiten und mit einem Ritual gestalten. Angelehnt ist das Ritual an die sogenannte „Visionssuche“, im Englischen „Vision Quest“, wie sie von indigenen Kulturen aus Nordamerika überliefert ist.

Die Potsdamer Angebote verstehen sich ausdrücklich als Alternative zu Konfirmation und Jugendweihe. Für Mädchen bietet der Verein Lebensschule Potsdam e.V. die „Drachinzeit“ an und für Jungen der Verein „Manne e.V.“ die „Phönixzeit“. Beide Vereine sind in Potsdam ansässig. Beide Vereine machen geschlechtsspezifische Angebote für Jugendliche. Beide sind durch ein Netzwerk aus Freunden, Partnerschaften und Gleichgesinnten verbunden. Bei einzelnen Projekten arbeiten sie auch zusammen.

Drachinzeit

Im Jahr 2000 fand nach eigener Auskunft zum ersten Mal eine „Drachinzeit“ für Mädchen statt. Der Name Drachin ist die weibliche Bezeichnung für einen Drachen. Gründerin und bis heute Leiterin des Projektes ist die Sozial-, Natur- und Erlebnispädagogin Kathrin Raunitschka. Neben ihr hat mehrere Jahre Mareike Künicke das Übergangsritual für Mädchen mit geleitet und aufgebaut. Heute stellen sich als Team der Drachinzeit neben diesen beiden 14 weitere Frauen im Alter zwischen 33 und 47 Jahren auf der Website des Angebots vor. Die meisten von ihnen haben eine pädagogische Ausbildung als Sozialpädagogin, Lehrerin oder zumindest die Qualifikation „Wildnispädagogin“. Nachdem das Angebot im Familien- und Freundeskreis ausprobiert und auf Zuspruch gestoßen war, wurde 2004 der Verein „Wildnisschule Potsdam e.V.“ als Träger gegründet, um Drachinzeit auf breitere Füße zu stellen. Inzwischen wurde der Verein in „Lebensschule e.V.“ umbenannt. Das Angebot richtet sich an Mädchen zwischen 12 und 16 Jahren. Jeweils 8 bis 10 Mädchen werden in einer Gruppe betreut. Man hat mit sehr kleinen Zahlen angefangen. 2000 begann die Drachinzeit mit einem Mädchen und ihrer Familie. 2005 waren es nach eigener Auskunft 4 Mädchen, die an einer Drachinzeit teilnahmen. Heute werden bis zu 40 Mädchen in mehreren Gruppen parallel zwischen Frühjahr und Herbst betreut. Ziel des Angebots ist es, „Mädchen und ihren Familien eine bewusste Begleitung des Übergangs vom Mädchen zur jungen Frau“ anzubieten.
Folgende Inhalte möchte der Verein dabei den Mädchen vermitteln: den Übergang und Abschied von der Kindheit markieren und die allmähliche Ablösung von den Eltern unterstützen, den eigene Körper und seine Veränderungen und die damit verbundenen Gefühle und Bedürfnisse wahrnehmen und annehmen, eigene Grenzen erfahren und ausloten, eigene Fähigkeiten und Ressourcen erkennen, Selbständigkeit und die Fähigkeit, für sich selbst zu sorgen, entwickeln, sich selbst und anderen eine Freundin sein – Kommunikation und den Umgang mit Konflikten üben, den eigenen Weg gehen, eigene Entscheidungen treffen und Verantwortung dafür übernehmen. Der Verein arbeitet vor allem mit „handlungs- und erfahrungsorientierten Methoden, Elementen der rituellen Gestaltung, der Naturerfahrung, der Körper- und Symbolarbeit“. „Wesentlich sind uns die natürlichen Rhythmen und Konsequenzen des gemeinschaftlichen Lebens unter einfachen Bedingungen der Natur“, schreiben die Anbieterinnen auf ihren Internetseiten. „Wir singen, tanzen, spielen, gehen baden, ringen, kochen und essen gemeinsam, sitzen am Feuer und tauschen uns aus…“

Vorbereitet zum Ritual

Die Drachinzeit beginnt mit einem Infoabend für die interessierten Eltern und Mädchen, an dem die Drachinzeit vorgestellt wird. Die Mädchen wählen eine Frau aus ihrem Umfeld als Patin, die sie in der Drachinzeit und vor allem während der Ritualzeit begleitet. Es folgen ein erster Elternabend und ein Vortreffen für die Mädchen zum Kennenlernen und zum Thema „Meine Familie“. An einem zweiten ganzen Tag geht es um die Themen „Vertrauen und Grenzen“, „Sehnsucht und Sucht“. An einem Wochenende in der Natur beschäftigen sich die Mädchen mit den Themen „Mein eigener Körper“ und „Weiblichkeit“. Vor dem Höhepunkt findet ein zweiter Elternabend und ein Treffen für die Mädchen statt. Beides dient der Vorbereitung der Ritualzeit im Herbst. Die viertägige Ritualzeit ist der Höhepunkt der Drachinzeit. Zu Beginn der Ritualzeit übergeben die Eltern ihre Töchter in die Obhut der Patinnen und Betreuerinnen vom Drachinzeit-Team. Zusammen verbringen die Mädchen mit den Frauen vier Tage in der Natur. Während dieser Zeit wählen sich die Mädchen einen Platz unter freiem Himmel in einem selbst gesuchten Abstand vom Hauptlager, wo sie 24 Stunden von Freitagnachmittag bis Sonnabendnachmittag allein, ohne Nahrung, ohne ablenkende Geräte und selbst ohne Taschenlampe bleiben. In Notfällen ist von den Frauen Hilfe zur Stelle. Nach Ablauf der 24 Stunden bringen die Patinnen je ihrem Mädchen selbst bereitetes Essen. Zurück in der Runde der Frauen wird in einem Feuer und unter Trommeln und Tänzen im Kreis der Frauen ein Gegenstand aus der Kindheit verbrannt und die Mädchen werden in den Kreis der Frauen als „Erwachsene“ aufgenommen. Am Ende der Ritualzeit werden die Mädchen und Patinnen von den Eltern bei einem Picknick empfangen. Empfohlen wird den Familien danach individuell den Übergang des Mädchens zu feiern. Später im Herbst findet ein dritter Elternabend und ein Nachtreffen für die Mädchen und Patinnen statt. Die Kosten betragen zur Zeit 650 Euro.

Der Verein Lebensschule e.V. strebt an, das Konzept der Drachinzeit über den Raum Potsdam hinaus in Deutschland zu verbreiten. Dafür können sich interessierte Frauen zu Assistenzen anmelden und bei Drachinzeit mitarbeiten. Außerdem bietet Kathrin Raunitschka über ihr eigenes Angebot „Natur und Ritual“ die Fortbildung dazu an: „Passage – Lehrgang in ini­tiatorischer Prozessgestaltung“.

Phönixzeit für Jungen

Seit 2003 gibt es mit Phönixzeit ein vergleichbares Angebot für Jungen, getragen vom Verein „Manne e.V.“. Gründungsmitglied und Geschäftsführer ist der Sozialpädagoge Eike Schwarz. Auch das Phönixzeit-Team vereint vor allem Männer mit (sozial-)pädagogischer und handwerklicher Ausbildung ebenfalls im Alter zwischen Mitte 30 und Mitte 40. Das Angebot für Jungen wurde nach dem mythischen Vogel Phönix benannt, der am Ende seiner Lebenszeit verbrennt und zu neuem Leben aus der Asche emporsteigt. Die Phönixzeit gleicht im Ablauf und in den Inhalten stark der Drachinzeit, abgestimmt auf Interessen und Bedürfnisse der Jungen zwischen 13 und 15 Jahren. Als Themen werden hier genannt: „Meine Familie und ich (u.a. meine Familie, aus der ich komme, meine Fähigkeiten und Erfahrungen, die sie mir mitgegeben hat); Risikokompetenz und Grenzerfahrungen (u.a. Erfahrungen und Fragen zum Umgang mit Rausch und Ekstase, mit Grenzsituationen, mit Genuss- und Rauschmitteln, Konsum und Sucht); Liebe, Sex & Körper (u.a. Mein Körper und ich, Selbstwert und Selbstliebe, Umgang mit Gefühlen, Fragen zur Sexualität und zum Verliebtsein); Vorbereitung der Phönixtage (u.a. mit Eltern-, Paten- und Jungenrunden)“4.

Naturritual für Stadtkinder

Die Anbieter von Phönixzeit und Drachinzeit haben ein Ritual kreiert, das wohl genau ihren Vorstelllungen und Wünschen von Jugendarbeit entspricht und mit dem sie tatsächlich einen Nerv in ihrem Milieu treffen bei jungen, kreativen, gebildeten, naturverbundenen, spirituell interessierten Familien mit eher linken Wertvorstellungen.
Sprache und Reflektion über Ziele und Methoden lassen eine solide sozialpädagogische Schulung und Einflüsse der Erlebnispädagogik erkennen, aber eben auch das Interesse an „Übergangsritualen von Naturvölkern in Afrika und Asien“. Mit diesem Thema hatte sich die Gründerin Raunitschka in ihrer Diplomarbeit beschäftigt.
Gefährdet sind die Minderjährigen während der 24 Stunden Einsamkeit in der Natur nicht. Hilfe ist jederzeit in erreichbarer Nähe. Es geht um die Erfahrung von Einsamkeit, Stille und Leere in der freien Natur und um die Konfrontation mit sich selbst in dieser Zeit. Für die Jugendlichen ist das eine Gedulds- und vor allem auch Mutprobe. Bei westlichen Angeboten von „Vision Quest“ für Erwachsene sind vier Tage fastend allein in der Natur mit vorangehenden Ritualeinweihung üblich. Bei indigenen Völkern dauerten diese Fastenzeit oft noch länger und sollte den einsam Fastenden zu Visionen führen, nach denen er nach seiner Rückkehr in seinen Alltag sein Leben ausrichten sollte.
Die Übertragung dieses Rituals nordamerikanischer Indianer folgt offenbar einer älteren Tradition romantischer Verklärung in unserer westlichen Gesellschaft. Geträumt wird von einem natürlichen und in gewisser Weise unschuldigem Leben in freier Natur ohne den vermeintlichen Ballast von westlicher Kultur und ohne Entfremdung. Man sehnt sich nach einer tieferen Verbindung mit der Natur, mit unsichtbaren Kräften, mit sich selbst und anderen. Es scheint fast so als verlängerten die Sozialpädagogen mit Drachinzeit und Phönixzeit auch für sich selbst das Indianerspiel aus Kindertagen fortgeführt mit einem erwachsenen Ernst und pädagogischen Idealen.

Claudia Knepper

1    http://religion.orf.at/stories/2768390/
2    Vgl. dazu Confessio 3/2011, 6-9.
3    Link abrufbar über http://www.phoenixzeit.de/presse.phtml
4    http://www.phoenixzeit.de/inhalte-und-ablaeufe.phtml

 

 

Artikel-URL: https://www.confessio.de/index.php/artikel/338